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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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Torte. Das Plätschern füllt die Luft wie eine Melodie aus einer Spieluhr. Agnes, ruft das Weib hinter ihr. Jetzt warte doch, Agnes. 941
    Da ist das Bild an der Wand, zur Linken, das Bild mit dem Hirsch. Er hat ihr immer so leid getan, der Hirsch, dem drei Hunde mit riesigen Zähnen an der Kehle hängen, und dahinter die Jäger mit Armbrüsten und Speeren. So weit aufgerissen sind die Augen des Hirsches, dass man nur Weiß sieht, und Blut läuft seinen Hals hinunter. Als sie das Bild zum ersten Mal gesehen hat, damals, als sie mit Papa und Mama hier war, hatte sie ge- weint, so leid hatte ihr der Hirsch getan. Es ist so gemein, hatte sie geschluchzt, all die Jäger und Hunde, und der Hirsch ist ganz allein. Die anderen hatten sie ausgelacht, denn schließlich war es nur ein Tier, mehr noch, nur ein Bild von einem Tier. Aber Papa hatte nicht gelacht. Du hast recht, hatte er gesagt, es ist gemein. Ganz furchtbar gemein.
    Papa ist jetzt natürlich auch ein Engel im Himmel. Trotzdem schreit sie nach ihm, als sie an dem Bild vorbeiläuft und das Weib dicht hinter ihr ist, so dicht, dass sie ihr schweres Parfüm riechen kann. Agnes, ruft es hinter ihr, und sie dreht sich um. Sie kann die kleinen Pickel um die Nase der Frau sehen und den Schweiß auf ihrem Gesicht, der ihre blonden Locken an der Stirn kleben lässt. Die Frau lacht. Es ist ein böses Lachen.
    Und sie stolpert gegen etwas Weiches.
    Im ersten Moment hält sie es für ein Spiel. Im ersten Moment denkt sie, Alice hätte sich auf den Boden gelegt, um sie zu er- schrecken, so wie sie sich früher manchmal im Schrank versteckt hat, um dann mit einem lauten Schrei hervorzuspringen und zu lachen, wenn sie schrie vor Angst. Im ersten Moment will sie ein- fach nicht glauben, dass das mit Alice passiert ist. Obwohl sie so anders geworden ist, obwohl ihr Gesicht so dick und dunkel ist und ihre Augen so seltsam an ihr vorbeisehen, als ob sie gar nicht da wäre, oder als ob Alice gar nicht da wäre. Obwohl da all die- se seltsamen Punkte in Alices Augen und auf ihren Lidern sind, Punkte wie zarte, kleine Sommersprossen. Erst als sie Alice an- stößt und sie immer noch so daliegt und ihre Augen immer noch durch sie hindurchgucken, da begreift sie, dass nun auch Alice in den Himmel gegangen ist. So wie Mama und Papa und Daniel. So wie all die Leute in diesem Dorf. Mama hat sie getröstet we- gen der Leute in dem Dorf. Es sind nur ihre Körper, die da liegen, 942
    hat sie zu ihr gesagt. Ihre Seelen sind im Himmel, und da ist es wunder-wunderschön.
    Agnes, ruft die Kinderfrau, böse ist ihre Stimme, und sie stol- pert über Alices Beine hinweg und rennt weiter. Der Gang geht nach rechts jetzt. Sie weint, während sie ihn hin- unterläuft, und das ist schlecht, denn ihre Beine zittern bereits vor Erschöpfung, und jetzt zittern sie auch noch vom Weinen, je mehr sie weint, desto schlimmer zittern sie, und je schlimmer sie zittern, desto mehr weint sie. Mamaaa, schreit sie, Mamaaa, doch Mama kommt nicht, und auch Papa kommt nicht, sie ist allein, und so nah ist jetzt das Kindermädchen, seine Hände greifen nach ihr, Mamaaa, kreischt sie, hilf mir!
    Louise!
    Die Kinderfrau lacht wieder, als sie sie nach Louise schreien hört, ja, Louise, wo ist sie denn, die kleine Louise, fragt sie la- chend, und Agnes weint noch mehr, denn bestimmt ist auch Lou- ise jetzt zu einem Engel geworden, alle sind sie weggegangen und haben sie allein gelassen, und vor ihr kreuzt sich der Gang mit einem zweiten, klettert die Decke in schwindelerregende Höhen, wird zum Gewölbe, wie eine Kirche sieht es aus. Hier gibt es fast ein Echo, sagt Victor, wenn man sich genau in die Mitte stellt und Hea! ruft, dann klingt es Hea-ea-ea. Sie hat oft dort gestanden und Hea gerufen, aber sie hat nie ein -ea-ea gehört. Es war eben nur fast ein Echo.
    Unter dem Gewölbe liegt ein Stern. Er ist aus vielen kleinen Steinchen zusammengesetzt, grüne, rote und braune, ein Mosaik nennt man das, sagt Louise. Am Tag glitzert er, wenn das Licht durch die Fenster darauf fällt, doch jetzt fällt nur Dunkelheit durch die Fenster und liegt schwarz über dem Stern. Sie weiß, dass sie nicht mehr weiter laufen kann. Bis zu dem Stern noch, vielleicht. Also gut. Bis zu dem Stern noch, dann wird sie anhalten. Louise, schnieft sie noch einmal.
    Und Louise kommt. Tritt plötzlich heraus, aus der Schwärze, die den Stern umgibt, und jetzt steht sie in seinem Zentrum. Ganz ruhig steht sie da. Sie läuft nicht auf Agnes zu, sie

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