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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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weiteren Jagderfolg gebracht hatte. Vielmehr hatte sie die Tatsache, dass ein Mensch sich ihr nähern konnte, ohne dass sie ihn bemerkte, zutiefst in ihrem Ehrgefühl als Katze verletzt.
    ***
    Er hieß Bruder Antonius. Zumindest war das der Name, den er sich gegeben hatte, als er, ein halbes Kind noch, vor über zehn Jahren dem Augustinerkonvent in Ais beigetreten war. Noch immer war er als jung zu bezeichnen, fünfundzwanzig, höchstens sechsundzwanzig Jahre alt, doch wie die meisten Mönche machten ihn die strenge dunkle Kutte und die Tonsur älter, als er war, und das hagere, ernste Gesicht und die grauen Strähnen in seinem Haarkranz taten ein Übriges. Nicht dass sie eine neuere Erscheinung waren, diese grauen Strähnen. Er gehörte offensichtlich zu denen, die schon früh ergrauen. Sehr früh. Es gab ein paar Mitbrüder aus der Zeit des Noviziats, die ihn damit aufzuziehen pflegten, er habe schon bei seinem Eintritt in den Orden graue Haare gehabt. Bruder Antonius. Es hätte viele Namen gegeben, die in Frage gekommen wären, Roger war ganz oben auf der Liste gestanden
    – nach Roger Bacon –, dicht gefolgt von Thomas – nach Thomas 104
    Aquinus oder Thomas Morus, wie es beliebt –, doch als der Novizenmeister ihn gefragt hatte, wofür er sich entscheiden wolle, hatte er «Antonius» gesagt. Nach Antonius dem Großen, hatte der Novizenmeister gefragt, und sich, als er nickte, strahlend in Betrachtungen zur Vita des hl. Antonius ergangen, und er hatte ihm halb abwesend zugehört und gedacht, dass es gut so war, er war Antonius, kein Thomas und kein Roger Bacon, so gern er es gewesen wäre. Er war Bruder Antonius, und dies war seine Zeit. Mitternacht. Es war einer jener endlosen Witze, die in diesem Kloster wie in jedem anderen kursierten. Wem begegnet man wahrscheinlicher nach Mitternacht im Kreuzgang? Dem ruhelosen Geist von Pater Severinus, den einst ein sterbendes Hexenweib verfluchte, oder Bruder Antonius? – Bruder Antonius natürlich. Es wurde viel gelästert über seine Affinität zu den späten Nachtstunden. Bruder Antonius sind die sechs Stunden Schlaf einfach zu lang, seine Liebe zum Gebet erträgt die Zeit zwischen Completorium und Laudes offensichtlich nicht, sein scharfer Forschergeist funktioniert eben noch besser, wenn die Sonne ihm nicht so störend auf den Kopf brennt, und der eine oder andere hatte auch schon bösartigere Mutmaßungen ob seiner häufigen Nachtspaziergänge geäußert: Frauen, hübsche junge Novizen oder gar ketzerisches Treiben zum Beispiel. Der Abt nahm ihn glücklicherweise in Schutz. Wenn Bruder Antonius die Nacht zum Gebet statt zum Schlafen nutzen will, so ist das sein gutes Recht und überdies vorbildlich, verteidigte er seinen Schützling. Der Abt pflegte ihn immer schon als großen Wissenschaftler oder als Würdenträger in Rom zu sehen. Tatsache war, er liebte die Nacht. Es gab keine andere Tageszeit, zu der er sich so sicher, so wohl behütet fühlte, so als breite Gott mit der Dunkelheit einen schützenden Mantel um ihn, den keine Gefahr, nicht einmal ein böser Gedanke durchdringen konnte. Es gab keine andere Tageszeit, zu der er sich Gott und seinem Wort so nahe fühlte, zu der er den Geist des Allmächtigen so unmittelbar, so körperlich neben sich wusste, dass er manchmal die Hand ausstreckte, um ihn zu berühren, und mehr als einmal hatte er diese Berührung tatsächlich gespürt. Es gab keine andere Tageszeit, wo sein Verstand so klar, seine Sinne so scharf, seine Seele so rein war, so absolut frei von allem Düsteren, Trübenden, wo er mit solcher 105
    Klarheit und Verständigkeit in die Welt hinaus blicken konnte, der Geist bereit für Erkenntnisse, die ihm zu jeder anderen Zeit verschlossen geblieben wären. Es war kein wirkliches Beten, wie seine Hochwürden der Abt annahm, kein Paternosterquiesincoelis und kein Ave Maria, es war kein Philosophieren über das Wesen der Welt und kein Forschen, kein Blick in die Himmelssphären auf der Suche nach neuen Wandersternen. Es war nichts von alle dem und es war alles zugleich, Verstand und Seele, Glaube und Wissen, Suche und Erfüllung. Der Schlaf reute ihn nicht, Schlaf ist Unsicherheit, Chaos, Albträume, es gab keinen Grund, auch nur eine Sekunde mehr als unbedingt nötig in diesem Zustand zu verbringen. Die Lautlosigkeit hatte er sich bewahrt. Man verlernt keine Dinge, die eine ganze Kindheit lang zum Leben gehörten wie das tägliche Brot. Mehr als das tägliche Brot. Bei Tag legte man seine Fähigkeit,

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