Die Kinder des Ketzers
ihren Augen. Und jetzt die ganzen Gruselgeschichten! Gott, sie würde furchtbare Albträume haben, wenn sie jetzt einschlief.
…
Hufschlag. Dann Klopfen unten an der Tür. Cristino fuhr hoch. Hatte sie geschlafen? Wenn ja, dann ohne zu träumen. Wie spät war es? Und was…
Schritte polterten die Treppe empor, zwei Männerstimmen, die sich gedämpft unterhielten. Dann wurde gegenüber an die Tür geklopft. «Senher de Couvencour», hörte sie die Stimme des Wirts.
«Senher, da ist ein Mann, der Euch sucht.»
Ein Mann, der Couvencour suchte? Jetzt, mitten in der Nacht?
Was hatte das denn wieder zu bedeuten?
Drüben wurde die Tür geöffnet. Eine leise, geflüsterte Unterhaltung. Dann Unruhe auf dem Gang, Schritte, die die Treppe hinunter sprangen. Unten klappte die Tür. Sie stand auf. Die Holzbohlen waren kühl unter ihren Füßen, als sie zum Fenster tappte und nach draußen spähte. Arnac de Couvencour führte sein Pferd auf den Hof hinaus. Einen Moment stand er und starrte nach oben, zu ihrem Fenster, wie es schien, dann schwang er sich in den Sattel und jagte im Galopp vom Hof. Sie stand und sah zu, wie das Pferd und der schlanke Reiter die Straße hinunter verschwanden, dann tappte sie zurück zu ihrem Bett und schlüpfte unter die Decke. Ihr war plötzlich zum Heulen zumute.
***
102
Einige Meilen weiter südöstlich schlich zur selben Zeit ein einsamer Jäger durch den düsteren Kreuzgang eines Klosters. Es war die tote Zeit der Nacht, die Schläge der Turmuhr, die Mitternacht verkündeten, bereits verklungen, und das vorwitzige Opfer, das seine Nase hinter der Mittelsäule eines Spitzbogens hervor steckte, war, wie ihm seine messerscharfen Augen, sein feines Gehör und sein unnachahmliches Gespür für Gefahr verrieten, außer seiner Wenigkeit die einzige wache Seele im gesamten Revier. Der Jäger war eine Sie. Keine ganz junge Sie mehr, in den besten Jahren, wenn man so wollte, die Glieder noch gelenkig, die Sehnen geschmeidig, der gesamte Körper ein Paket aus kraftvollen, energiegeladenen Muskeln, jedoch gepaart mit der Erfahrung und Schläue, die ein Leben auf der Jagd mit sich bringt. Niemand, dem eine Beute leicht entgeht, und das ahnungslose Geschöpf, das jetzt seinen Beobachtungsposten auf der Mauer des Kreuzgangs verlassen hatte und in hastigen, trippelnden Schritten auf das Wasserbecken im Zentrum des Innenhofs zuhuschte, war bereits jetzt so tot wie die Gebeine der verblichenen Äbte unter den Grabplatten im Kreuzgang.
Sie rückte näher. Es war nicht der erste Erfolg in dieser Nacht
– künftiger Erfolg, zugegeben, aber man konnte ihn bereits mitrechnen. Bis drei konnte sie zählen, und es waren deutlich mehr als drei gewesen. Ein gutes Revier, besser als ihr altes, wo man nächtelang ohne vernünftiges Ergebnis auf der Lauer liegen konnte. Sie hatte es von einem entfernten, etwas minderbemittelten Vetter übernommen, dessen endlose Reaktionszeit ihm ein frühes Ende unter den Hufen eines rasenden Pferdes beschert hatte. Gelegentlich gedachte sie seiner in stiller Dankbarkeit. Näher. Schwerelos, lautlos glitt ihr Körper über die kühlen Steinplatten, völlig verschwindend in der Dunkelheit, die über dem Innenhof lastete. Das Opfer saß jetzt neben dem Wasserbecken, blanke Augen suchend in die Nacht gerichtet, die Gefahr vielleicht spürend, aber unfähig, sie zu orten. Es waren nur noch zwei, drei sachte Schritte, und sie war in Angriffsreichweite, bereit vorzuspringen, das Opfer mit zwei schnellen Sprüngen zu erreichen und zuzupacken. Zwei, drei sachte Schritte.
Sie hielt inne.
103
Da war ein Geräusch neben ihr.
Da war ein Geräusch neben ihr! Nicht irgendwo am anderen Ende des Kreuzganges, sondern direkt an ihrer Seite! Entgeistert sah sie nach rechts, und dort stand, aus dem Boden gewachsen, düster in seinem langen dunklen Gewand, ein Mensch. Ein verdammter, vermaledeiter Mensch! Und sie hatte ihn nicht kommen hören!
Und in diesem Moment registrierte das Opfer den Menschen. Blitzschnell hatte es sich um seine eigene Achse gedreht und rannte, stürzte sich in die Grasbüschel am Rand des Innenhofs und verschwand in einer Mauerritze. Der Mensch stieß jene seltsamen, menschentypischen Schnatterlaute aus, während er neben ihr in die Knie sank, und tastete mit einer weißen Hand nach ihrem Kopf. Aber sie war im Moment nicht zu Höflichkeiten aufgelegt; mit einem Fauchen wich sie ihm aus und trabte der Mauer zu.
Es war nicht so sehr der Umstand, dass er sie um einen
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