Die Kinder des Ketzers
dem sie zu Beginn der saison die Schmeicheleien der Galane genossen hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Die courtoisie war zu einer Pflicht geworden, die sie erfüllte, wie es sich gehörte, ohne daran aber noch den geringsten Spaß zu haben.
Sie vermisste Loís. Sie vermisste Louise. Und ganz besonders vermisste sie Catarino.
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Für Cristino waren Onkel Pierres medizinische Bücher die einzige Aufheiterung in jenen langweiligen Tagen. In jeder freien Minute vergrub sie sich in ihre Seiten, bis spät in die Nacht saß sie mit einer Kerze an ihrer Seite über den Vesalius oder den Paré gebeugt und studierte die Geheimnisse der Heilkunst und des menschlichen Körpers. Manchmal fand sie eine Randnotiz auf einer der Seiten, geschrieben in der schmalen, zierlichen Schrift einer Frau. In diesen Momenten war die Erinnerung an Beatrix so lebendig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
«Du solltest dich etwas mehr für den Baroun d’Alard oder den Cavalié de Siest interessieren und etwas weniger für deine komischen Bücher!», schimpfte die Dame Castelblanc, und Frederi Jùli spottete, Cristino würde wohl eher Docteur Ambroise Paré als den Baroun d’Alard heiraten wollen. Ach, halt den Rand, schimpfte Cristino. Es war einer der seltenen Unstimmigkeiten zwischen Cristino und Frederi Jùli. Seit ihrer Rückkehr aus Ais waren die beiden ansonsten ein Herz und eine Seele. Um genau zu sein, war Frederi Jùli der Einzige, mit dem Cristino über ihre Leidenschaft zur Medizin reden konnte, jetzt, wo Tante Beatrix tot und Bruder Antonius fort war. Frederi Jùlis wissenschaftliches Interesse hielt sich zwar in Grenzen, aber er besaß die übliche Neugier eines neunjährigen Jungen gegenüber allem Fremden, Geheimnisvollen und Grusligen und konnte stundenlang Cristinos Vorträgen über Schusswunden, Amputationen und Pestepidemien lauschen. «Ich bin sicher, dass sich das Contagion über einen entsprechenden Filter isolieren lässt, wie jede andere alchemisch fassbare Substanz», erklärte Cristino ihrem eifrigen Zuhörer. «Vermutlich kann man es destillieren, und vermutlich kann man sich davor schützen, indem man einen Filter vor Nase und Mund legt und sich nach dem Kontakt mit einem Kranken von allen Schmutzstoffen reinigt, mit denen man in Berührung gekommen ist. Umso mehr, wenn es sich wirklich um einen lebenden Keim handeln sollte.» Sie wickelte nachdenklich eine Haarlocke um ihren Finger. «Was für einen lebenden Keim spricht, ist, dass Seuchen sich ausbreiten. Ein Gift müsste doch irgendwann verfliegen, aber das Contagion scheint im Rahmen einer Seuche immer mehr zu werden. Wie ein lebendes Wesen, das sich fortpflanzt.»
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«Aber ein lebendes Wesen müsste man doch sehen können, wenn es einen Menschen anspringt.» Frederi Jùli stellte sich das Contagion offensichtlich so etwa wie eine Kröte vor.
«Himmel, es gibt viele Dinge, die so klein sind, dass man sie nicht oder nur mit einem Vergrößerungsglas sieht!», rief Cristino.
«Selbst einen Floh siehst du im Normalfall nicht, und deshalb ist er trotzdem lebendig. – Andererseits gibt es auch nicht lebendige Dinge, die sich ausbreiten – Feuer zum Beispiel. Das Contagion könnte somit auch ein unbekanntes Element sein.»
Die Dame Castelblanc hielt nichts von den wissenschaftlichen Überlegungen ihrer Tochter. «Es ist an der Zeit, dass du mit diesen lächerlichen Spielereien aufhörst, du bist schließlich eine erwachsene Frau», schimpfte sie. Und dann verkündete sie, dass der Cavalié de Siest ihr einen Besuch abgestattet habe, um ihr mitzuteilen, dass er ernsthaft an Cristino interessiert sei. «Wir müssen natürlich noch warten, bis dein Vater» – sie meinte Frederi – «wieder zurück ist. Aber ich bin dafür, dass wir das Verlöbnis dann rasch unter Dach und Fach bringen. Du wirst nicht allzu viele Angebote bekommen, mein Kind, nach allem, was passiert ist.» Cristino gab zu bedenken, dass der Cavalié de Siest mehr als doppelt so alt sei wie sie, doch die Dame Castelblanc war der Meinung, ein reiferer Herr wäre genau das, was ein verwöhntes Kind wie sie brauche, und einen Besseren findest du sowieso nicht, meine Liebe, nach allem! Das war ihr Standardsatz geworden. Nach allem. Am 5. August war Cristinos siebzehnter Geburtstag. Es war ein seltsames Ereignis für Cristino, deren Geburtstag bisher im April gelegen hatte, zumal sie jetzt quasi von einem Tag auf den anderen um ein halbes Jahr älter geworden war. Zu Victor, der
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