Die Kinder des Ketzers
Cristino, so ist es, sagten die Augen und schillerten vor unterdrücktem Lachen. So geht es im Leben. Gerade ist man noch lebendig und vergnügt und geht seinem üblichen Tagewerk nach, und plötzlich ist man starr und tot, und das Blut schlägt Wellen auf der Brust, und die Glieder erkalten, und die Haut erbleicht, und dahin ist alles, die Jugend, die Kraft, der Puls, der soeben noch heißes Blut durch diese Adern gejagt hat, die Geschmeidigkeit der Bewegung, des Laufens, des Tanzens, die Anmut eines Lachens und der Wohlklang einer Stimme, all das ist jetzt Verwesung, Verfall, Würmerfraß. Das Blut, Cristino, so viel Blut, jetzt fließt es unnütz über den Boden, tränkt den Straßenstaub, trocknet im Glanz der Sonne auf den Feldsteinen, wo ich es doch so gebraucht hätte, dieses Blut, das mich so lange gewärmt, meinen Körper mit Kraft erfüllt hat.
Blut, Cristino.
So viel Blut.
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«Das Essen ist angerichtet!», sagte Oma Felicitas. «Kommt endlich, das Zeug war teuer, ich will nicht, dass es kalt wird!» Oma Felicitas war ein herrisches altes Weib, das ihre Tochter und sogar ihren Sohn rücksichtslos herumkommandierte. Dies war nicht wirklich ungewöhnlich; der Respekt gegenüber ihren Eltern bedingte, dass viele Männer von ihrer Mutter einen Ton akzeptierten, den sie keiner anderen Frau – schon gar nicht ihrer Ehefrau
– zugestanden hätten. Und viele alte Frauen, die ein Leben lang unter der Bevormundung durch ihren Gatten gelitten hatten, freuten sich insgeheim auf ihren Witwenstand, in dem ihnen als Mutter eines Sohnes eine machtvolle Stellung sicher war. Dennoch fragte sich die Dame Castelblanc gelegentlich, ob das unziemliche Verhalten, das Catarino so oft an den Tag legte, vielleicht doch mehr war als eine Folge der ungeschliffenen Sitten auf dem Lande. Ob sie am Ende einfach nach ihrer Großmutter kam.
Die Tischgesellschaft war ausgesprochen heterogener Stimmung an jenem Nachmittag. Hunger hatten alle, und Oma Felicitas hatte eine der besten Köchinnen in ganz Ais, es schmeckte ohne Frage. Dennoch gab es den einen oder anderen, der alles andere als guter Laune war. In der Tat, wenn man von der Dame Castelblanc und Catarino sowie dem tüchtig dreinhauenden Frederi Jùli absah, war die Stimmung insgesamt ziemlich gedrückt. Cristino war nicht die einzige, die mit einem äußerst miesepetrigen Gesichtsausdruck an der Tafel saß.
«Bei Gott, hat es euch die Rosen verhagelt, oder was?», fragte Oma Felicitas missmutig. «Sancta Maria mater misericordiae, so ein schönes Essen, und ihr hockt da als wären’s Läuse und Flöhe, die ich euch auftische.»
«Dieser Hundsfott von einem Aktenwurm!» Onkel Philomenus knallte das Messer auf den Tisch, das er soeben in den Braten hatte spießen wollen. «Ich mache ihm eine Mitteilung, die die Sicherheit des Landes betrifft, und was sagt er? ‹Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich habe etwas anderes zu tun, als irgendwelchen Räubern nachzulaufen.›» Er versuchte bei diesen Worten, den Tonfall des Viguié zu imitieren, der Falsett, in den er dabei verfiel, hätte aber eher einem Kastraten geziemt als Mèstre Crestin. «Verflucht, das kommt da133
von, wenn man den Stadtratten derart verantwortliche Aufgaben überlässt! Ich werde mich im Rat dafür einsetzen…»
«Fluch nicht vor den Kindern, Philomenus!», zischte Frederi.
«Die Antonius-Jünger!», brüllte Philomenus. «Die AntoniusJünger sind zurück, und statt dass dieser Vollidiot alles stehen und liegen lässt, um diese Verbrecher zu fassen, hält er mir kluge Vorträge! Aber das wird sich rächen, das wird sich rächen!»
Der dunkelhaarige Junge, der zwischen Onkel Philomenus und Tante Eusebia saß, reckte seinen Hals und krähte: «Ich würd’ die alle totschlagen, die Räuber, Papa!»
Tante Eusebia stieß einen Juchzer aus wie bei einem Bauerntanz und tätschelte dem Jungen seine rosige Wange. «Aber sicher würdest du das, Schnuckelchen», gurrte sie. «Ist er nicht ein kleiner Held, mein Junge?» Fabious nachdenklichem Blick entnahm Cristino, dass er überlegte, ob er Schnuckelchen lieber in der Soße ersäufen oder mit dem Tranchiermesser zerkleinern sollte, und die Art, wie Frederi seine Fäuste ballte und wieder öffnete, wies auch auf wenig fromme Absichten seinem Neffen gegenüber hin. Schnuckelchen war ein Jahr älter als Frederi Jùli und hieß mit christlichem Namen Theodosius. Er war der einzige Sohn des Senher d’Auban; neben ihm gab es in der Familie nur noch zwei Töchter,
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