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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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hat», sagte Frederi schroff.
    «Aber das muss doch nicht gerade heute sein, am Sonntag würden wir doch sowieso…»
    «Ich bin durchaus der Meinung, dass ich bereits heute Grund zum Beten habe. Ihr müsst mich ja nicht begleiten, wenn ihr nicht wollt», sagte Frederi brüsk, stand auf und verließ den Raum.
    «Eine rechte Betschwester, dein Mann, also wirklich!», sagte Onkel Philomenus. Es klang verächtlich.
    «Halt den Mund, Philomenus», fauchte Oma Felicitas. «Und du auch, Madaleno. Die Savanets und die Mancouns können warten. 136
    Wir gehen alle in die Messe und danach auf den Friedhof, und dabei bleibt es!»
    ***
    «Credo in unum deum, patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium…»
    Gesenkten Hauptes saß Cristino auf der harten Holzbank, die Hände andächtig gefaltet, die Augen ebenso andächtig der Marienstatue zu ihrer Linken zugewandt, die die Abendsonne, die durch die Rosette über dem Hauptportal fiel, in rotes und blaues Licht tauchte. Schlank und schön die Mutter Gottes, goldenes Haar von blauem Samt bedeckt, lieblich das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, und der Blick aus ihren Augen, der auf das Kind in ihren Armen gerichtet war, ein properer, wohlgenährter Säugling, nur mit einer Windel bekleidet, doch in seinen Augen bereits der Blick des Herrschers über alle Himmel und alle Erden, ein Finger der rechten Hand ausgereckt, mit dem er sie jetzt bereits aussandte, die Heerscharen seiner Gläubigen, auf dass sie alle Völker zu Jüngern machten und den Glauben, den wahren, hinaustrugen in alle Welt. Wenn Cristino an Jesus dachte, dann war es stets dieser Jesus: strahlend, pausbäckig, goldlockig, Lachen in seinem Gesicht. Den anderen versuchte sie aus ihrem Denken zu verbannen, den, der ausgezehrt und blutüberströmt an einem Kreuz hing, fingerdicke Nägel durch seine Füße und seine Handgelenke getrieben und in seinen Augen jener Ausdruck unaussprechlicher Qual, der sie innerlich schreien ließ. Karfreitags, wenn das Evangelium verlesen wurde, verfluchte sie alljährlich das Schicksal, das zugelassen hatte, dass sie Latein lernte und jedes der eindringlichen Worte des Priesters verstand, und wenn es zu der Stelle kam, an der Jesus geschlagen und gegeißelt und schließlich ans Kreuz genagelt wurde, ließ
    sie stets den Kopf in die Hände sinken und versuchte verstohlen, ihre Finger auf den kleinen Knorpel vor ihren Ohren zu pressen und so die Stimme des Priesters auszusperren, und wenn ihr dies nicht gelang, murmelte sie leise Kinderreime vor sich hin in dem verzweifelten Versuch, jene Worte zu übertönen.
    137
    «… et in unum dominum Jesum Christum, filium dei unigenitum, qui ex patre natum ante omnia saecula…»
    Lautlos bewegten sich neben ihr die Lippen der Großmutter. Auch sie konnte Latein, doppelt so gut wie Cristino vermutlich, schließlich stammte sie aus einer Generation, in der es modern gewesen war, Latein zu sprechen, und in der die Jugend einst ebenso eifrig mit lateinischen Brocken um sich geworfen hatte, wie man es heutzutage mit französischen tat, eine Angewohnheit, von der sich Großmutter bis zum heutigen Tag nicht hatte verabschieden können.
    «… deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo vero, genitum non factum, per quem omnia facta sunt…»
    Cristino wandte ihren Blick nach vorne, zum Pater, der die Messe las, einer der niederen Priester von Sant Sauvaire, der Kathedrale von Ais, versuchte sich auf seine Worte, seine Stimme, seinen eindringlichen Blick zu konzentrieren. Es wäre durchaus auch eine Idee, Gott dafür zu danken, dass er uns trotz aller Gefahren sicher nach Ais gebracht hat, hatte Frederi gesagt, und bei Gott, er hatte recht, wie oft waren sie auf dieser Fahrt nur knapp dem Tod entronnen, die Entführung, und dann die Sache mit dem erschlagenen Kaufmann – Fabiou hatte gesagt, die Mörder seien wohl noch ganz in der Nähe gewesen, was, wenn sie zurückgekommen wären? Und schließlich hatte sie ja auch für den toten Kaufmann beten wollen, der sie mit so wachen Augen angesehen hatte.
    «… qui propter nos homines et nostram salutem descendit de coelis. Et incarnatus est per spiritum sanctum dominum ex Mariae virginae et homo factus est…»
    Oma Felicitas war etwas Besonderes. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie für eine Frau eine erstaunliche Bildung besaß. Sie war die älteste von drei Schwestern, und ihr Vater hatte die Tatsache, dass Gott ihm einen Sohn verwehrt hatte, offenbar dadurch

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