Die Kinder des Saturn
Granita Ford. Als ich langsam den Kopf wende, sehe ich, dass sie mich vom anderen Ende des Salons aus beobachtet. Ihr Tross ist ausnahmsweise
abgelenkt, denn er lauscht der unsinnigen Debatte, die zwei Drittel der Passagiere in den Streit hineinzuziehen droht. Bedächtig blinzelt Granita mir zu, senkt die mit langen blauen Wimpern besetzten Lider über die großen durchsichtigen Augen und beginnt zu lächeln. Offenbar bin ich zu Hofe geladen – eine Einladung, auf die ich gut und gern verzichten könnte. Doch es wäre unklug, sie zu missachten. Also fahre ich mit der Hand über meine Karten, um das Blatt zu löschen, und mache mich auf den Weg zu ihr.
Abgesehen von mir ist die ehrwürdige Granita die menschenähnlichste Person im Salon; niemand würde wagen, sie ein abartiges Ungeheuer zu nennen. Sie ist etwa einen Meter fünfundsechzig groß und im Rahmen ihrer Glasfaserpracht offenbar grazil gebaut. Ihren Kopf krönen azurblaue Federn, die ein Netz aus feinen Goldmaschen zusammenhält. Selbstverständlich hat sie das zarte Kinn, die nach oben weisende Nase und die riesigen Augen der Bishojo-Aristokratie. Doch ansonsten könnte sie als weibliches Exemplar unserer Schöpfer durchgehen, allerdings eines, das jede Menge kosmetischer Eingriffe hinter sich hat. Wüsste ich nicht, dass sie eine zweihundertfünfzig Jahre alte Tyrannin ist, eine Sklavenhalterin und Angehörige des Hochadels, hätte ich vielleicht angenommen, sie habe die Einladung aus beiläufiger Neugier ausgesprochen. Aber bei Granita und ihrer Sippe erfolgt niemals etwas ohne bestimmte Absicht.
»Und wie stehen Sie zu dieser Sache, gnädige Frau?«, frage ich.
Sie täuscht ein Gähnen vor – eine kunstvolle, uralte Methode, das persönliche Gasreservoir zu entleeren (hier jedoch eigentlich fehl am Platz, denn die Pygmalion lässt im Passagierbereich keine Sauerstoffmoleküle zu, da sie zu leicht chemische Reaktionen auslösen könnten) – und wirft mir einen schrägen Blick zu. »Spielt das irgendeine Rolle? Die Theologie bringt das Schiff auch nicht schneller voran.«
»Da haben Sie wohl Recht«, höre ich mich zu meiner Verblüffung sagen. Während meine eine Hälfte überlegt, wie sie dieser
widerlichen alten Hexe entkommen kann, scheint die andere Hälfte unsicher zu sein, wie sie sich verhalten soll. »Aber sie hilft dabei, die Zeit totzuschlagen.«
»Einigen Leuten schon, stimmt. Sie interessieren mich, Madame. Ich habe nämlich das seltsame Gefühl, Ihnen schon einmal irgendwo begegnet zu sein«, sagt sie, ohne zu lächeln. Das bestürzt mich so, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft.
»Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind«, erwidere ich. »Zumindest nicht vor dieser Reise.«
»Genau deshalb ist es ja auch ein so seltsames Gefühl. Zumal sich die vornehme Gesellschaft in Cinnabar auf einen recht übersichtlichen Kreis beschränkt. Vielleicht erinnern Sie mich an jemanden.«
Jetzt halte ich meinerseits ein Lächeln für angemessen, das nur dazu dienen soll, sie zu bluffen. »Manchmal hält man sich lieber im Hintergrund.«
Sie erwidert mein Lächeln auf reservierte Art. »Ja, natürlich.«
Ich stapfe die dunkle Allee entlang; bei jedem Schritt schleift mein Mantelsaum über die in Mondlicht getauchten Kieselsteine, die akribisch geschliffen und bearbeitet sind. Das Memento mori – das Motiv besteht aus einem Schutzhelm mit geöffnetem Visier – wiederholt sich unzählige Male entlang des armbreiten Durchgangs zwischen den bröselnden Sandsteinmauern. In meinem Rücken macht sich der Friedhofswärter laut schmatzend über die Ninjas her, die mich töten wollten. Ihre Schmerzensschreie fallen bereits kürzer aus, doch die mahlenden, schlürfenden Geräusche halten an.
Zu meiner Linken ist eine ganze Reihe leerer Steinsarkophage in Wandnischen eingebettet. Jeden Sarkophag ziert die Statue des toten Schöpfers, der früher darin geschlummert hat. Stets ist der Verstorbene in nobler und zugleich heroischer Haltung dargestellt; sehr passend für einen Friedhof, auf dem Wesen ruhen, die
es gewagt haben, nach den Sternen zu greifen. Aus mir unbekanntem Grund tragen diejenigen, die verhungert sind oder die Körper ihrer gefallenen Kameraden verzehrt haben, die Roben der Richter, die in der Islamischen Republik Indonesien amtierten. Hingegen sind diejenigen, die in die Marswüste hinauszogen und die Visiere ihrer Schutzhelme aufklappten, um die Lebensmittel- und Sauerstoffvorräte der übrigen Gestrandeten zu strecken,
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