Die Kinder des Teufels (German Edition)
sehen, woher der Schuss kam, aber das war auch unerheblich. Die Menge war nun nicht mehr zu halten. Volkhardts schützender Arm verlor sich, sie wurde gestoßen, getreten, fiel zu Boden. Von irgendwoher hörte sie das Rumpeln eines Karrens, wütende Kommandos, Schreie.
Ein Ochsengespann war auf dem abschüssigen Weg durchgegangen. Blind vor Furcht hasteten die Tiere auf das Tor zu, überrannten alles und jeden. Bauern und Kaufleute, Bettler und Wachen stoben auseinander, stürzten oder erstarrten vor dem, was da auf sie zukam. Zuerst die Ochsen, dann die Wagenräder.
Eine Hand packte Kathi, zerrte an ihr, sie aber hielt Michael fest. «Steh auf!»
Mit letzter Kraft kam sie auf die Beine und wurde sogleich weggerissen. Sie erkannte Volkhardt unter den vielen fremden Gesichtern. Er redete auf sie ein, doch sie verstand nichts.
Sie spürte noch nicht einmal den Schlag gegen ihren Kopf.
Als sie die Augen wieder öffnete, war es dunkel. Ein Feuer brannte schwach. Bizarre Schatten an der Wand. Stimmen haderten miteinander. Kathi rappelte sich auf. An ihrer Seite lag Michael, eingehüllt in einen Bausch Lumpen. Er atmete ruhig, anscheinend war er unverletzt. Gott sei Dank.
Dafür schmerzten ihr Kopf, der Rücken, Beine und Füße. Es fühlte sich an, als wäre sie doch unter die Räder gekommen.
«Wie geht es dir?»
Sie blickte auf, rieb sich die schmerzenden Schläfen, den Nacken. Es war Volkhardt, und er lächelte sie an.
«Wo bin ich?», fragte sie.
«In Sicherheit.» Er hielt ihr eine Schale hin. «Iss das.»
Sie konnte nicht erkennen, was sich in der Schale befand, aber es roch verlockend nach Fleisch. «Was ist das?»
«Es wird dich wieder zu Kräften bringen.»
«Hat Michael …?»
«Er hat, und nun iss.»
Er nahm sie an die Hand und führte sie zum Feuer, das mitten im Raum brannte. Drum herum saßen Kinder. Mindestens ein Dutzend, eng beieinander, die schmutzigen Hände nah an den Flammen. Ihre Augen waren auf Kathi gerichtet. Auf den rußgeschwärzten Gesichtern schienen sie zu leuchten, doch je näher Kathi ihnen kam, desto mehr verloren sie an Glanz. Es waren traurige Augen, hilflos und erschöpft. Manche auch misstrauisch.
Andere Kinder waren krank. Sie lagen abseits, husteten und kämpften mit dem Fieber.
«Das ist Kathi», sprach Volkhardt in die Runde. «Heißt sie willkommen. Sie wird vorerst bei uns bleiben.»
Ein paar Köpfe nickten, andere verharrten im Zweifel.
«Ist das dein Kind?», fragte einer und zeigte zu Michael hinüber.
Kathi setzte sich neben Volkhardt. Das Feuer tat gut.
«Ich bin seine Schwester.»
«Wo ist die Mutter?»
«Tot.»
«Und der Vater?»
«Auch er ist …»
Was sollte sie sagen? Sie entschied sich für etwas, das sie sich bisher nicht eingestanden hatte. Vielleicht dachte sie auch an Christian, ihrem Vater auf Zeit, der sie auch verlassen hatte.
«Tot.»
Das Kind nickte nur. Es war unmöglich zu sagen, ob sich hinter diesem rabenschwarzen Gesicht ein Junge oder ein Mädchen verbarg. Auch die zerrissene Kleidung gab keinen Aufschluss. Die Stimme, vielleicht. Es konnte ein Mädchen sein mit großen runden Augen und mit verfilzten Haaren, die in alle Richtungen abstanden.
«Gott hat ihn zu sich befohlen», sagte Kathi.
«Gott?», fragte ein anderer. «Glaubst du etwa noch an diesen Unsinn?»
Kathi sah ihn überrascht an. «Ja, warum nicht?»
«Gott hat es nie gegeben.»
«Red du keinen Unsinn», ging ein Junge dazwischen, der ihm gegenübersaß. «Gott gibt es, und er liebt uns.»
«Gott hasst uns.»
«Niemals.»
«Doch, schon immer. Schau uns doch an.» Sein Blick ging reihum. «Würde Gott es zulassen, dass wir um unser Leben fürchten und uns in diesen Kellern verstecken müssen? Ein wahrer Gott hätte Erbarmen und würde über uns wachen, so wie ein Vater und eine Mutter.»
Einige nickten. Die anderen schwiegen betroffen. Ein Mädchen weinte.
«Aber das ist alles eine Lüge. Es gibt keinen Gott. Wir sind des Teufels. Deswegen sind wir hier, fressen Ratten und Spinnen.»
Er stand auf, ging hinüber in eine dunkle Ecke und begann zu weinen.
«Was ist mit ihm?», fragte Kathi.
«Er hat alles verloren», antwortete Volkhardt. «Vater, Mutter, Geschwister – alle auf dem Scheiterhaufen. Das prächtige Haus, in dem er gewohnt hat, ist niedergebrannt, das Vermögen der Familie eingezogen. Selbst die Verwandten wollen nichts mit ihm, einem Hexenkind, zu tun haben. Die Gefahr ist einfach zu groß, selbst angeklagt zu werden.»
«Das ist
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