Die Kinder von Avalon (German Edition)
heute brechen wir auf …«
Wieder wechselte das Bild. Diesmal war es Hagen, den es traf. Er hob den Speer, wie um den Ansturm abzuwehren, aber die Bilder flossen um die Klinge herum und erfüllten sein Blickfeld.
Hagen sah:
Er stand, die Unterarme auf eine hüfthohe Brüstung gelehnt, auf einer Galerie und blickte hinab auf den Fluss. Unter ihm blinkte das Wasser in der Mittagssonne. Am Kai vertäut lag ein Schiff.
Es war kein gewöhnliches Schiff. Kein sterblicher Schiffbauer hatte diese geschwungenen Spanten geschnitten, diese honigfarbenen Planken gebogen und zusammengefügt. Die Schilde, die am Außenbord über den Ruderbänken befestigt waren, blinkten wie mit Gold beschlagen, und der hochgezogene Bug mit dem Drachenkopf bäumte sich auf wie eine Schlange, zum Zustoßen bereit. Es war, als sei dieses Schiff selbst ein lebendes Wesen, und von hier oben aus wäre es schwer zu sagen gewesen, wie groß es war. Denn es schien mit jeder Welle, die es anhob, größer zu werden und mit jedem Wellental wieder zu schrumpfen.
»Merlins Schiff«, sagte eine Stimme in seinem Rücken.
Er fuhr herum. Die Hand suchte nach dem Speer, doch als er erkannte, wer da vor ihm stand, ließ er sie, entwaffnet, wieder sinken.
Es war eine Frau. Im ersten Augenblick hatte er geglaubt – nein, eher gehofft –, sie wäre es, die junge, mädchenhafte Frau, die ihm vor den Toren der Burg begegnet war. Doch diese Frau war älter, und ihr Haar, halb unter einem Schleier verborgen, war schwarz, nicht golden.
»Merlin?«, fragte er, nur um etwas zu sagen. »Wer ist Merlin?«
»Oh!« Sie lachte. »Ich weiß, dass es nicht sein richtiger Name ist. Merlin, der Vaterlose, der Unsterbliche. Soll ich dir seinen wirklichen Namen nennen? Soll ich ihn hinausschreien, so wie den deinen, Lancelot? Soll ich dir all ihre Namen nennen, wie sie da gehen?«
Sie war neben ihn an die Brüstung getreten. Wie unter einem Zwang folgte sein Blick ihrem Fingerzeig.
»Siehst du ihn dort, den mit dem schwarzen Bart, der aussieht wie ein Schmied? Gawain nennen sie ihn, doch in Wirklichkeit heißt er ganz anders. Und ihn, der neben ihm geht und aussieht, als wäre er sein Bruder? Galahad ist sein Name bei Hofe, doch vormals riefen ihn die Frauen, die ihn verehrten, mit einem anderen Namen. Und ihn dort, der sich bewegt wie eine Schlange, als sei er soeben den Fluten des Meeres entstiegen? Tristan von Lyonesse wird er genannt, doch aus tieferen Abgründen kam dieser Sohn der Welle an Land. Siehst du sie, die Halbgötter von einst, nun in menschlicher Gestalt, angetreten zum letzten Aufgebot, um von der alten Welt zu retten, was zu retten ist?«
Sein Blick aber war an dem schwarz gelockten Jüngling haften geblieben, der die Einschiffung überwachte. »Und was ist mit ihm? Was ist mit Mordred?«
»Er ist Arthurs Sohn – und meiner. Denn dies hat der alte Zauberer nicht bedacht, als Arthur zurückkehrte von den Inseln des Westens, nur bewaffnet mit einem alten Schwert, das er aus einem Stein gezogen hatte. Er wusste nichts von seiner Herkunft und meiner. Und ich war jung und schön damals …«
»Du bist es immer noch, Morgause«, sagte der junge Ritter. »Aber warum hast du das getan? Was bedeutet dir dieser Sohn?«
»Er ist das Werkzeug meiner Rache. Und darum gab ich ihm diesen Namen: Mordred. Mordydd. Damit der Graue am Ende weiß, dass ihm nichts anderes zuteil wird als die gerechte Strafe für den Verrat, den er wieder und wieder begangen hat.«
»Du bist krank, Morgause. Krank und zerfressen von Hass.« Mitleid lag in seiner Stimme. »Weiß er davon?«
»Er ahnt es, gewiss, aber er weiß es nicht.«
»Ich muss es ihm sagen …« Er wollte sich abwenden zum Gehen, doch sie hielt ihn zurück.
»Du wirst es ihm sagen, aber noch nicht. Noch nicht. Komm …«
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn weg von der Galerie in das Innere des Gebäudes.
Durch einen Torbogen gingen sie und einen Gang entlang, eine Treppe hinauf und weiter zu einer hölzernen Tür. Die Tür war geschlossen, doch sie öffnete sich wie von Geisterhand. Licht fiel in eine Kammer, und in diesem Licht stand sie.
Er wusste nicht mehr, wie ihm geschah. Ein Bann umfing ihn, der ihm die Knie zittern ließ, die Glieder lähmte. Ein Rauschen war in seinen Ohren, das alle anderen Geräusche übertönte. Sein Blick, sein ganzes Denken und Sein verengte sich auf die Gestalt, die vor ihm stand, in einem dünnen weißen Gewand, umströmt vom Gold ihres
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