Die Kinder von Avalon (German Edition)
fehlte noch, ein letztes Geheimnis, das es noch zu ergründen galt.
»Er ist nur ein Teil«, sagte der Alte, »ein Teil jenes großen Mysteriums, das man den Gral nennt. Denn der Gral ist der Kelch und der Stein. Er vereinigt zwei der großen Schätze der Anderswelt in sich, so wie sie alle am Ende vereint sein werden, auch der Speer und das Schwert. Aber dies liegt noch in der Zukunft verborgen. Heute sind wir hier, um das Wunder des Grals herbeizuführen.«
Er wandte sich an Gunhild. Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Bist du bereit, deinen Schatz zu opfern, damit jenes größere Wunder wahr wird?«
Sie blickte auf den Kristall in ihren Händen. Sein Licht war so warm und so tröstlich. Es fiel ihr unendlich schwer, sich davon zu trennen.
Wie von selbst fügte der Stein sich in den Knauf des Kelches.
Ein Ton klang auf.
Er war so fein und klar, dass man ihn fast nicht hören konnte: ein Klang, der aus einem fernen Raum zu kommen schien, aus einer Zeit jenseits aller Zeit. Alle Sorgen vergingen in jenem Klang, aller Kummer, alles Leid.
Der Gral sang.
Wie kristallener Tau tropfte der Klang in die goldene Schale, füllte sie bis zum Rand. Der Alte nahm den Gral mit beiden Händen, wie ein Priester, er blickte hinein, und Tränen schimmerten in seinen Augen. Dann hob er den Kelch und berührte den Rand mit den Lippen.
Aber er trank nicht davon.
Mit einem Ausdruck der Wehmut in den Augen reichte er den Kelch Gunhild.
»Bring ihn zu dem schlafenden König«, sagte er, »und gib ihm davon zu trinken. Er braucht es nötiger als ich.«
Sie nahm ihn entgegen, mit Staunen im Blick, und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Eine Wellenfront ging durch den Spiegel des Kelches, wie bei einem Teich, der von einem fernen Beben erschüttert wird. Irgendwo rieselte Sand von der Decke.
»Ihr müsst gehen«, sagte der Alte. »Dieser Ort wird nicht mehr lange Bestand haben. Geht und nehmt die Schätze mit; sie gehören nicht hierher. Sie gehören zurück in die Welt.«
Siggi war aufgestanden. Er packte das Schwert, das auf dem Tisch lag.
»Aber wie kommen wir hier raus?«
Hagen sah sich um. »Nicht auf dem Weg, den wir gekommen sind«, stellte er fest. »Vielleicht durch eines dieser Fenster?«
Das Flackern jenseits der Fenster war erloschen. Dahinter herrschte nur noch ein fahles Dämmerlicht. Dafür hörten sie umso deutlicher das Knirschen im Gestein, als sei darin etwas erwacht, etwas Riesiges, Gewaltiges, das sich nun seinen Weg in die Freiheit bahnte.
»Versuchen wir es!«, meinte Siggi. »Bevor hier alles zusammenbricht. Komm, Gunni!«
Gunhild starrte immer noch auf das, was sie in den Händen hielt, als könnte sie das Wunder nicht fassen. Doch der Glanz, der den Gral umgab, war bereits im Schwinden begriffen. Er war nun nicht mehr und nicht weniger als ein wunderschöner Kelch, mit Juwelen und Ornamenten besetzt und mit einem großen Kristall im Knauf. Und er war leer, wie er es immer gewesen war.
Sie stand auf. Sie wusste nicht so recht, wohin mit dem Kelch; schließlich klemmte sie ihn unter den Gürtel, obwohl ihr das etwas respektlos erschien.
Wieder ging ein Stoß durch die Felsenstadt. Hinter dem Altar klirrte eine gesprungene Fensterscheibe zu Boden. »Das ist der Weg«, sagte Hagen. »Gehen wir.«
Der Einzige, der sitzen blieb, war der Alte. Er rührte sich nicht und machte keine Anstalten, aufzustehen.
»Was ist mit dir?«, fragte Gunhild, und plötzlich dämmerte es ihr: »Du kommst nicht mit?«
»Hör mal«, sagte Siggi, »du kannst doch nicht hier bleiben. Hier bricht gleich alles zusammen.«
»Es ist viel zu gefährlich«, meinte Hagen. »Das können wir nicht verantworten.«
Der Alte lächelte. »Ihr tragt genug Verantwortung für euch selbst. Macht euch keine Sorgen um mich. Wir werden uns wiedersehen, irgendwann, vor dem Ende:
Ich bin der Erste und der Letzte,
Ich werde auf Erden sein bis zum Tag des Gerichts,
Und es ist nicht bekannt, von welcher Art ich bin, ob Fleisch oder Fisch.«
»Er spinnt«, sagte Siggi. Doch in seiner Stimme klang Respekt mit.
»Er weiß nicht, was er tut«, meinte Hagen. Es hörte sich an, als sei er keineswegs davon überzeugt.
Gunhild trat zu dem Alten und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Lebe wohl.«
Dann wandten sie sich zum Gehen. Ehe die aufragende Altarwand die Sicht versperrte, warf Gunhild noch einen letzten Blick zurück. Der alte Mann saß in sich selbst versunken am Ende des runden Tisches. Er schien mit sich und der Welt im Reinen zu
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