Die Kinder von Avalon (German Edition)
sein. Sein rechtes Auge funkelte hell und ein wenig schelmisch. Sein linkes, das im Schatten lag, blickte in sich hinein, in das Innere der Welt.
»He«, sagte Siggi. »Schaut mal. Kein Steinblock. Kein Schwert.«
»Es ist eben nicht immer und überall dasselbe«, klärte ihn Hagen auf. »Nicht wahr, sonst könnte man an den Geschichten nie etwas ändern«, fügte er mit einem Seitenblick auf Gunhild hinzu.
Die war schon dabei, die letzten Scherben aus dem hohen Fenster zu brechen. Dahinter lag Dunkelheit, aber so viel war zu erkennen, dass hier in der Tat ein Gang nach oben führte.
Hagen warf einen prüfenden Blick zur Decke. In dem Bogen des Fensters klaffte ein Riss.
»Es wird kritisch«, meinte er. »Raus hier.«
Sie kletterten durch die Fensteröffnung. Der Gang, der sich anschloss, war ebenso hoch und schmal wie das Fenster, mit rauen, schroffen Wänden. Der Boden war mit Geröll übersät, und es gab kaum Licht. Die Steine bewegten sich unter ihren Füßen, sodass sie streckenweise auf allen vieren kriechen mussten, um voranzukommen. Und nicht nur der Boden bewegte sich …
»Schneller«, japste Siggi.
Wieder erschütterte ein Stoß das Felsgestein. Es war, als wolle ein riesiges Tier sich mit Gewalt aus dem Fels befreien.
»Was ist da los?«, keuchte Hagen.
»Es ist … wie damals, auf dem Drachenpfad.« Siggi erinnerte sich noch an das Gefühl, als würden die hohen Wände auf sie zukommen, um sie zu zerquetschen. Doch diesmal war es keine Täuschung. Die Wände bewegten sich wirklich.
Siggis Hand, die der Seitenwand gefolgt war, zuckte weg, als die Mauer plötzlich einen Sprung machte. Steine spritzten hoch.
»Aua!«, kam Gunhilds Stimme von hinten.
»Was ist?«, rief Hagen.
»Nichts passiert.« Der Boden tanzte. »Augen zu und durch!«
Das war leichter gesagt als getan. Der Gang, der anfangs noch gerade nach oben geführt hatte, begann sich zu winden. Vielleicht hatte er das immer schon getan, vielleicht waren es aber auch erst die Verwerfungen, die sich im Fels vollzogen, die ihn aus der Bahn gezerrt hatten. Einmal mussten sie sich seitlich durch eine Engstelle quetschen; ein andermal lag das Geröll so hoch, dass sie nur auf dem Bauch rutschend vorankamen. Und bei allem mussten sie darauf achten, dass es ja nicht nur um sie allein ging. Sie durften auch ihre kostbaren Schätze nicht verlieren.
»Alles klar, Siggi?« Gunhild wusste, dass ihr Bruder Angst vor allzu engen Räumen hatte.
»Kein Problem«, sagte der. »Ich weiß jetzt ja, wie es geht. Augen zu und durch!«
»Da vorne ist irgendwo Licht!«, rief Hagen von weiter voraus. »Das Ende ist in Sicht.«
Aber Siggi sah nichts, weil er die Augen fest geschlossen hielt. In Situationen wie dieser wünschte er sich seinen Hammer zurück. Das Amulett hatte ihm immer Kraft gegeben. Zwar hatte er nun das Schwert, doch das war nicht dasselbe. Das heißt, eigentlich stellte er fest, dass er es gar nicht benötigte. Er konnte auch ohne Hilfe seine Angst bezwingen. Er öffnete die Augen.
Ein Stück voraus klaffte ein Riss in der Schwärze. Hindurch schien der tiefblaue Himmel. Ein einzelner, golden strahlender Stern leuchtete herab.
Die Ränder des Lichtflecks faserten aus wie bei einem Stoff, der im Wind wehte. Es war, als löse sich der Fels in nichts auf. Doch im gleichen Moment begriff Siggi, worum es sich wirklich handelte.
»Achtung! Lawine!«
Schützend riss er die Arme hoch. Ein Steinregen prasselte herab. Klackend sprangen die Steine von einer Felswand zur anderen hinab in die Tiefe. Und wieder gab es einen Ruck. Wieder verengte sich der Schacht.
»Wir schaffen es nicht.« Hagens Gesicht schwamm geisterhaft in der Düsternis. Ein Stein hatte ihn an der Stirn gestreift; er blutete. »Der Fels schließt sich.«
»Weiter!« Siggi stieß ihn an. »Nicht stehen bleiben! Jetzt nicht schlappmachen! Bis hierher ging’s doch. Los! Los!« Er erinnerte sich, wie er in der wassergefüllten Röhre unter dem gläsernen Turm geglaubt hatte, dass er es nicht mehr weiterschaffe. Damals hatte ihn Hagen an den Füßen gepackt und angeschoben. Jetzt war er an der Reihe, den Freund anzutreiben. »Los! Keine Müdigkeit!«
Sie kletterten weiter. Jetzt hörte man voraus schon wieder das Donnern der Wasserfälle. Salz lag in der Luft. Gischt wehte herein, machte die Steine schlüpfrig und glänzend. Vor dem offenen Himmel zeichneten sich dunkel Hagens Umrisse ab. »Ich bin oben!«, jubelte er.
In diesem Augenblick kippte die Welt.
Das, was oben
Weitere Kostenlose Bücher