Die Kinder von Avalon (German Edition)
und Merlin hatte Siggi schon gehört. Und der Ort des Kelches – unwillkürlich musste er dabei an das Museum denken, wo jener alte Kelch in einer Vitrine hinter Glas gestanden hatte. War dieser Ort gemeint? Er wusste es nicht, und noch eines war ihm fremd:
»Prydain?«, fragte Siggi. »Was ist Prydain?«
»Das alles hier«, sagte der Piskey mit einer weiten Handbewegung: »Die Insel der Mächtigen. Dieses Land und alles, was es umgibt.«
Hagen warf einen prüfenden Blick zum Himmel empor. Die Sonne war schon ein Stück weitergewandert, dem fernen Westen zu, wohin ihr Weg sie führen würde.
»Wenn wir nicht bald aufbrechen, werden wir nirgendwo mehr ankommen«, stellte er fest, »zumindest heute nicht mehr. Geh du voran«, sagte er zu Siggi, »zusammen mit unserem Führer. Ich bilde den Schluss und achte darauf, dass unser Freund nicht im Nebel abhanden kommt.«
Siggi, der immer noch nicht wusste, was er mit dem Schwert machen sollte, schob es versuchsweise in den Gürtel seiner Jeans. Es hielt, zumindest fürs Erste. »Dann komm«, sagte er zu dem Piskey. »Gehen wir.«
Der sah ihn mit einer Mischung aus Widerwillen, Abscheu und blankem Hass an, machte aber keine Einwände. Mit schlurfenden, ungelenken Schritten setzte er sich in Bewegung, wobei er, an keinen Bestimmten gewandt, etwas vor sich hin grummelte.
Der Nebel, der sie aufnahm, war keine einheitlich graue Masse. Vielmehr trieb er in Bahnen und Wirbeln dahin. Umrisse von Büschen und Bäumen tauchten aus dem Dunst auf, standen wie feine Scherenschnitte vor dem graublauen Hintergrund und verschwanden wieder. Manchmal reichte der Blick weit ins Land, dann wieder beschränkte er sich nur auf wenige Schritte, als sei die Welt dahinter plötzlich zu Ende.
Wie nicht anders zu erwarten, war es schwer, im Nebel der geraden Linie zu folgen. Aus der Nähe betrachtet, war der Weg alles andere als gerade. Er bestand auch nicht aus einer durchgezogenen Bahn wie eine Straße oder ein Karrenweg, sondern aus einzelnen Flecken, die sich erst aus der Entfernung zu einer Linie verbanden.
Es war gut, dass Siggi sich vorher wenigstens ungefähr die Richtung eingeprägt hatte, sonst wäre er bald an sich selbst irre geworden. Auch der Piskey war keine große Hilfe; er trottete einfach neben ihm her und murmelte etwas von »gefährlich« und »vom Weg abkommen«.
»Ich weiß, dass es gefährlich ist, wenn wir vom Weg abkommen«, gab Siggi ihm zu verstehen.
»Der gerade Weg ist nicht immer der kürzeste«, erklärte der Piskey. »Manchmal ist der krumme Weg der beste oder der Weg des Drachen, der sich windet, oder die Spirale, die zum Zentrum führt …« Wieder versank er in ein unverständliches Grummeln. »Und manchmal gar keiner«, meinte er dann laut.
Als sie wieder aus der Nebelzone herauskamen, waren sie in der Tat ein Stück nach links von der geraden Linie abgewichen. Hier auf der Kuppe war deutlich zu sehen, wo sich die Spur entlangzog. Während sie durch das harte, in Büscheln wachsende Gras stapften, brannte ihnen die Sonne ins Gesicht. Da kein Wind ging, war es überraschend warm, und Siggi schwitzte unter seinem Parka. Selbst Hagen klebte das T-Shirt am Körper. Sie hätten jetzt gern etwas zu trinken gehabt. Dem Piskey schien das alles nichts auszumachen.
»Gibt es hier öfter solchen Nebel?«, nahm Siggi das Gespräch wieder auf, als sie in die nächste Senke hinabstiegen.
Der Piskey warf ihm von unten einen giftigen Blick zu. »An all dem seid nur ihr schuld«, knurrte er. »Ihr … Menschen .« Er sprach es aus wie ein übles Wort, das einen fauligen Geschmack im Mund zurücklässt.
»Wieso das?«, konnte Siggi sich nicht enthalten zu fragen. Der Piskey ruderte mit seinen langen Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Pwyll!«, sagte er. Es klang wie ein verächtliches Schnauben.
»Was?«
»Pwyll, Fürst von Dyved«, fuhr der Piskey erklärend fort. »Pwyll, Herr von Annwn, wie er sich später nannte. Dabei war er nicht mehr als ein Schweinehirt. Aber er sah eines Tages Rhiannon vorüberreiten, und von dem Tag an wollte er keine andere Frau mehr ansehen. Dabei weiß jeder, dass es nur Unglück bringt, wenn Menschen sich mit den Unsterblichen einlassen.«
»Du meinst – sie war eine Göttin?«
»Bin ich ein Gott?«, schnaubte der Piskey. »Sieh mich an! Sieht so ein Gott aus? Ist alles, was nicht menschlich ist, gleich göttlich?« Das war ein Argument. »Rhiannon von den Vögeln, so nennt man sie. Aber was dieser Pwyll in ihr sah, das weiß
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