Die Kinder von Erin (German Edition)
Menschen vermied er. Er gab nicht viele, aber wenn er eine Bewegung in der Ferne sah, die auf menschliches Leben hindeuten mochte, machte er einen großen Bogen darum.
Irgendwann begann ein feiner Nieselregen zu fallen, der alles durchtränkte. Zitternd und frierend verbrachte Hagen die Nacht im Schutz eines großen Steines, an dessen Fuß sich eine Vertiefung befand, als habe hier kürzlich jemand gegraben. An einer Kante des Steinblocks waren seltsame Kerben eingeritzt; aber wenn es eine Schrift war, so konnte Hagen sie nicht entziffern.
Mehrmals in der Nacht war er kurz davor einzunicken, aber jedes Mal, wenn ihn der Schlaf zu übermannen drohte, schreckte er wieder auf. Er hatte zu viel Angst, in seinen Träumen das Antlitz der Mórrigan zu sehen.
Mögest du niemals Ruhe finden, bis du dasselbe Schicksal erleidest, das du deinem Freund zugefügt hast …
Als der Morgen herauf dämmerte, bleiern und fahl, sah Hagen, dass er sich in einem flachen, offenen Talkessel befand, der übersät war mit Steinen. Der Himmel lastete darüber wie eine riesige umgestülpte Schüssel. Durch das Ziehen des grauen Gewölks sah es so aus, als senke er sich langsam, aber unerbittlich herab.
Hagen zog unwillkürlich den Kopf ein, als er den Rand des Tales erreichte. Vor ihm lag eine weite, ungeschützte Ebene, mit Riedgras bewachsen. Hier und da blinkte schwarzes Wasser in moorigen Tümpeln.
Er packte seinen Speer fester und humpelte los.
Es war ein mühsames Vorankommen. Immer wieder musste er sich seinen Weg mit dem Speerschaft ertasten, indem er ihn vor sich in den Boden stach. Manchmal gab es unter einer nur dünnen Schicht modrigen Humus festen Halt; manchmal aber erwies sich das, was er für sicheren Boden gehalten hatte, nur als die Oberfläche eines grundlosen Pfuhls.
Außerdem hatte er Hunger. Wenn er zurück rechnete, so hatte er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Noch nie war er so lange ohne feste Nahrung gewesen. Das Gefühl war unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Das einzig Irritierende war, dass er nach einiger Zeit an nichts anderes als an Essen mehr denken konnte. Er versuchte ein paar von den blauschwarzen Beeren zu essen, die hier wuchsen; aber sie waren so sauer, dass sie ihm den Mund zusammenzogen, und er spuckte sie rasch wieder aus.
Schlimmer war der Durst. Zum Glück fand er an einer Stelle, wo der Felsengrund durch die sumpfige Oberfläche stach, eine geschützte Höhlung im Stein, wo sich Regenwasser gesammelt hatte. Es schmeckte abgestanden, aber im Gegensatz zu dem schwarzen Wasser des Moores war es trinkbar.
Hagen schüttelte sich. Dann zog er die Nase kraus. Rauch lag in der Luft, ein Gestank wie von verbranntem Torf. Woher kam dieser Geruch, hier in diesem feuchten Land, in dem es kaum möglich war, ein Lagerfeuer zu errichten?
Hagen sah es erst, als er unmittelbar darauf stieß. Ein Hindernis tat sich vor ihm auf, mit dem er nicht gerechnet hatte. Quer zu seinem Weg erstreckte sich ein Graben. Feiner Qualm stieg daraus hoch, bedeckte den Grund mit einem Dunstschleier, sodass man nicht genau sehen konnte, wie tief er war. Und seltsamerweise, obwohl ringsum alles Land vollgesogen war mit Wasser, lief nicht der kleinste Tropfen über den Rand in die Tiefe.
Einen Augenblick lang stand Hagen ratlos da. Was hatte das hier zu bedeuten? Dann setzte die Erinnerung wieder ein, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Die Mórrigan war hier …
Sie war dort entlang gegangen, hatte die Erde aufgerissen wie eine schwärende Wunde, die sich nicht mehr schließen wollte.
Hagen begann zu laufen. Wasser spritzte unter seinen Füßen hoch, aber er achtete nicht darauf. Der Rauch brannte in seinen Augen. Einmal stolperte er, als er mit dem Fuß in ein tiefes Wasserloch geriet, und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Seine Jeans und sein Umhang waren schwarz von Moorwasser. Ruhig, sagte er sich, ruhig! Wenn du dir den Fuß verstauchst, kannst du nirgendwo mehr hin laufen. Aber er konnte die Panik in seinem Inneren nicht unterdrücken.
Der Graben endete abrupt, als sei die Mórrigan, die ihn aufgerissen hatte, hier in die Erde versunken. Vielleicht war es auch so. Hagen wollte lieber nicht darüber nachdenken.
Er wandte sich wieder gen Süden. Dort, am Horizont, lag der Schatten eines Waldes. Hagen hielt darauf zu.
Es ging schon auf Mittag zu, als er endlich trockeneren Grund erreichte. Der Wald lag vor ihm – doch was für ein Wald! Er sah aus, als habe der Sturm darin gewütet.
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