Die Kinder von Erin (German Edition)
Mächtige Eichen, in Jahrhunderten gewachsen, lagen umgeknickt wie von der Hand eines Riesen. Zweige waren entlaubt, als habe ein Sturm die Blätter abgerissen und weggefegt. Zersplitterte Äste ragten wie Knochen in den grauen Himmel.
Hier gab es kein Durchkommen mehr. Selbst in früheren Zeiten, als die Bäume noch standen, mochte es schwierig gewesen sein, diesen dichten Wald zu durchqueren. Doch jetzt, bei diesem Gewirr von geborstenen Stämmen, war es unmöglich.
Hagen ging ein Stück am Rand des Waldes entlang, bis ihm seine Beine den Dienst versagten. An einer einsam stehenden Eiche, die Sturm und Zerstörung getrotzt hatte, ließ er sich nieder. Eigentlich wollte er sich nur einen Moment lang ausruhen. Doch wie er so saß, den Rücken gegen die rissige Borke gelehnt, fielen ihm die Augen zu.
Er hörte Stimmen, Satzfetzen, wie vom Wind herüber geweht.
»… hast du sie gesehen? Ihr Antlitz ist bleich, ihre Augen sind wie Kohlen …«
»… Ochone! Sie wird alles zerstören, wenn sie so weiterzieht …«
»… voller Zorn. … Was kann sie besänftigen?«
»Ein Opfer? In früheren Zeiten …«
»… müsste schon … ein ganz besonderes …«
Weitere Stimmen, von anderswoher:
»… sein Haar ist wirr, sein Mantel ist schwarz. Er irrt durch das Land …«
»… der wilde Mann … was ist sein Ziel?«
Hagen schreckte auf. Sie redeten von ihm! Er lauschte. Nichts war zu hören außer dem Pfeifen des Windes in den kahlen Ästen. Im Gezweig knackte es, als aufgestaute Spannung sich Bahn brach. Draußen, auf dem endlosen Moor unter dem grauen Himmel, erklang das harsche Krächzen einer Krähe.
Hagen stemmte sich hoch. Sein Bein schmerzte, der ganze Körper tat ihm weh. Er musste weiter; hier konnte er nicht bleiben. Das Moorwasser quatschte in seinen Schuhen, als er losging.
Der Wind, der inzwischen zugenommen hatte, blies ihm direkt ins Gesicht, und so lehnte Hagen sich dagegen wie gegen eine nachgiebige Mauer. Solange er in Bewegung blieb, konnte er zumindest nicht fallen. Der Speer, den er immer noch mitschleppte, wurde ihm nach einziger Zeit lästig. Aber nun hatte er ihn so lange mit sich herumgetragen, dass er ihn nicht einfach loslassen wollte. Also legte er ihn quer über die Schulter und klammerte sich mit beiden Händen daran. Er brauchte jetzt jeden Halt, den er finden konnte.
Die Worte, die er in seinem kurzen Schlaf gehört hatte – gehört zu haben glaubte –, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Hatte er durch seine Tat ein Monster losgelassen, eine zornige Göttin mit ungeheurer Macht, die imstande war, das ganze Land zu vernichten? Absurd, sagte er sich. Und doch, wenn er bedachte, was er gesehen hatte …
Er war so in seine eigene Gedankenwelt eingeschlossen, dass er die kleine Hütte erst wahrnahm, als er unmittelbar davor stand. Ein niedriges, aus groben, weiß gekalkten Steinen errichtetes Häuschen mit einem Rieddach, das mit Tauen und schweren Feldsteinen gesichert war. Dünner Rauch filterte daraus empor. In einem Pferch daneben eine Ziege und zwei Schafe, die dem Ankömmling keinerlei Beachtung schenkten. Das ganze Anwesen, das sich in eine Bucht am Rande des Waldes schmiegte, war zum offenen Land hin umgeben von einer halb überwucherten Mauer, die Hagen anscheinend überstiegen hatte, ohne sie überhaupt wahrzunehmen.
Irgendwie kamen ihm Haus und Hof bekannt vor; er hatte das Gefühl, als hätte er dies alles irgendwann schon einmal gesehen. Doch im Augenblick interessierte ihn das alles nur am Rande. Was seinen Blick, seine ganzen Sinne gefangen nahm, war das Brot, das frisch und duftend auf dem Fenstersims lag.
Ohne sich auch nur irgendetwas dabei zu denken, ließ er den Speer fallen und rannte, ungeachtet aller Schmerzen, auf das Haus zu. Sein Kopf war nur noch erfüllt von dem Verlangen zu essen. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen, troff ihm aus den Mundwinkeln. Er packte das Brot; es war herrlich weich und warm. Er schlug seine Zähne hinein wie ein wildes Tier, riss daran und würgte es hinunter, biss wieder hinein, kaute und schluckte …
»Langsam, junger Mann«, sagte eine Stimme an seinem Ellbogen. »Langsam, oder du wirst dich übergeben.«
Hagens Herz setzte einen Schlag aus. Wie erstarrt stand er da, unfähig sich zu rühren: ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte.
Ein Becher wurde ihm in die Hand gedrückt. »Hier, trink das; das wird dir gut tun!«
Automatisch hob er die Hand und trank. Es war Milch, eigentümlich streng im Geschmack;
Weitere Kostenlose Bücher