Die Kinder von Erin (German Edition)
Hang, wo das Felsgestein aus dem lehmigen Boden hervorstach und eine Art natürliche Wand bildete, hatte man aus Ästen und Laubwerk Gestelle errichtet, die den Regen abhalten sollten. Es waren keine richtigen Hütten, aber schon mehr als bloße Stellwände. Das Unwetter der letzten Nacht hatte sie ziemlich zerzaust, doch fleißige Hände waren bereits dabei, sie wieder in Stand zu setzen. Siggi zählte noch etwa ein halbes Dutzend Leute, die im Lager geblieben waren. Sie sahen genauso verhungert und abgerissen aus wie jene, die er bereits kennen gelernt hatte.
Unter dem Felsen war eine Feuerstelle, an der ein paar Töpfe aus Tongeschirr in der Glut rösteten. Daneben saßen ein etwas älterer Junge und ein Mädchen, die gemeinsam irgendwelche Knollen schälten und die Stücke in die Töpfe verteilten. Das Mädchen blickte auf und sah Siggi an. Einen Augenblick schlug sein Herz höher, da sie fast aussah wie Gunhild, aber dann sah er, dass ihr langes, flachsblondes Haar stumpf und strähnig war und die mandelförmigen Augen in dem schmalen, fein geschnittenen Gesicht leblos blickten, als sei alle Hoffnung darin erloschen.
»Das sind Dermot und Gránia«, sagte Oisín neben ihm. »Ihre Eltern wollten sie nicht heiraten lassen. Seitdem leben sie hier bei uns im Wald.«
Siggi konnte nicht anders, er musste unwillkürlich in Gedanken die Szene vergleichen mit jener anderen, die er auf seiner ersten Reise in die Anderswelt gesehen hatte: dem unterirdischen Reich der Lichtalben, erleuchtet von geheimnisvollen Kristallen, mit Hallen, die in feinster Filigranarbeit aus dem lebenden Fels herausgetrieben worden waren – jedes Gebäude ein Kunstwerk, Natur, die in unvergänglichen Fels eingefangen worden war …
Und dennoch. Das war Vergangenheit. Das hier war die Gegenwart – und eine Aufgabe, der er sich zu stellen hatte.
Mit entschlossenen Schritten trat er an das Feuer heran. Die erstaunten Blicke der Umstehenden beachtete er gar nicht. »Nun, was gibt’s zu essen?«
»Kohlsuppe mit Kartoffeln, wie immer.«
»Dann nehm ich heute mal Kohlsuppe.«
Das Mädchen schöpfte ihm etwas aus einem der Töpfe in eine irdene Schale und reichte ihm einen hölzernen Löffel. In der Suppe schwammen auch irgendwelche Fleischfasern, die Siggi lieber nicht analysieren wollte. Wenn er Glück hatte, war es Schaf. Wenn nicht, vielleicht Eichhörnchen.
Dennoch schmeckte die Suppe gar nicht so schlecht. »Es fehlt vielleicht noch ein bisschen Salz.«
»Wir haben Salz, Herr«, sagte Gránia, das Mädchen.
»Und Brot«, fügte Dermot hinzu.
Er nahm das Salz entgegen – einen Brocken von undefinierbarer Farbe – und das Brot, einen am Feuer gebackenen, halb verkohlten Fladen. Alle schauten ihn erwartungsvoll an. Also brach er das Brot in der Mitte durch, streute etwas Salz darauf und biss hinein. »Gut«, sagte er. »Ihr könnt den Rest haben.« Und gab die Stücke nach rechts und links weiter.
Offensichtlich hatte er das Richtige getan, denn nun griffen auch die anderen zu, und alle gruppierten sich um die Feuerstätte und ließen die Schüsseln reihum gehen. Zu trinken gab es Wasser aus einer nahen Quelle, und nie hatte Siggi irgendein Mineralwasser so gut geschmeckt wie dieses hier.
»Wir hätten ja gerne Bier gebraut«, meinte Goll, der Dicke, zwischendurch. »Aber die Steuereinnehmer lassen uns nicht genug Gerste dafür übrig.«
Siggi registrierte es, sagte aber nichts. Irgendetwas störte ihn an dieser ganzen Szene. Irgendwas gehörte nicht hierher. Doch erst als er die Reste seiner Suppe mit dem Brot aus der Schüssel wischte, überkam ihn plötzlich die Erkenntnis.
Kartoffeln!
Kartoffeln in der Suppe? Nun gut, Kartoffeln gehörten zum irischen Eintopf wie das Salz, der Kohl und das Hammelfleisch. Das hatte ihm Hagen bereits am ersten Abend erklärt. Kohl und Kartoffeln, das Arme-Leute-Essen. Aber doch, bitte, nicht vor 1492! Kartoffeln kamen aus der Neuen Welt, und die war erst durch Christoph Kolumbus entdeckt worden. Das hatte er in der Schule gelernt. Und das hier, das war reines Mittelalter!
Oder gehörten Kartoffeln bereits so sehr zur irischen Mythologie, dass sie diesen kleinen historischen Fehler in Kauf nahm?
»Woher kommen die Kartoffeln?«, fragte er, an Oisín gewandt. »Ich meine, wer hat sie nach Erin gebracht.«
»Die Tuatha Dé Danann, nehme ich an«, erklärte dieser, noch mit vollen Mund, »als sie von Westen kamen. Sie brachten uns viele schöne und wertvolle Dinge – das Harfenspiel und die
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