Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
empfinden sie als Beleidigung. Ich bin mein Leben lang ihr Nachbar gewesen. Sie werden nicht warten, bis wir kriegsmüde werden und dahinschmelzen wie das Eis in der Solastro-Sonne. Sie wollen uns aus ihrem Land vertreiben.« Er lächelte und entblößte abgebrochene Zähne. »Ich weiß, wie sie sich fühlen.«
Tomas Engaard schüttelte den Kopf. Der Rittmeister der Zehnten Tundarranischen Legion war ein großer, blonder und beeindruckender Mann. Er war ein guter Bogenschütze zu Pferd. Der beste, den Roberto je gesehen hatte.
»Ich verstehe nicht, wie ihr das sagen könnt. So war es vielleicht vor drei Jahren, aber wir haben gesehen, wie sie in den letzten vier oder fünf Jahreszeiten immer weiter zurückgewichen sind. Dafür gibt es zwei denkbare Gründe, und beide sollten uns Sorgen machen. Zuerst einmal, dass sie von uns lernen, und dass es uns immer schwerer fallen wird, sie zu unseren Bedingungen in einen Kampf zu verwickeln. Zweitens könnten sie uns absichtlich tief in ihr Land locken. Mir macht dabei Sorgen, dass unsere Truppen im Osten auch dieses Jahr wieder auf Granit beißen werden, wenn die Berichte der Spione zutreffen. Das bedeutet, dass wir beträchtliche tsardonische Kräfte im Rücken haben. Wir sind mehr denn je davon abhängig, dass General Gesteris sie beschäftigt.«
»Ich glaube, wir sollten gar nicht erst daran denken, dass wir eingekesselt werden könnten, Tomas«, sagte Roberto. »Ich verstehe, was du sagen willst, aber der Feind steht vor uns. Lass uns realistisch bleiben. Gesteris wird nicht nachgeben. Wenn wir die Truppen vor uns besiegen können, dann können wir einen Bogen schlagen und den entscheidenden Sieg erringen.«
»Ich will vor allem darauf hinaus, dass wir umso stärker isoliert sind, je weiter sie sich ins Hinterland zurückziehen.«
»Deshalb wüsste ich gern, was ihr Kommandant denkt«, sagte Roberto. »Sie haben ein Lager aufgeschlagen und sich von uns einholen lassen. Ich glaube nicht, dass sie das Lager abbrechen und sich weiter zurückziehen werden. Sie wollen jetzt gegen uns kämpfen.
Die Frage ist, ob sie uns auf der Ebene begegnen werden, und wenn nicht, wie sie sich aufstellen werden und inwieweit wir das Geschehen diktieren können. Sollten wir beispielsweise unser Lager abbrechen und so tun, als marschierten wir nach Süden?«
»Nicht gleich als Erstes«, warnte Davarov von den Klingen. Seine Stimme war heiser, nachdem er bei grimmiger Kälte viel zu oft laut gebrüllt hatte. »Wir befinden uns hier in einer günstigen Position. Wir haben einen ausgezeichneten Blick rundum und können keinesfalls von hinten überrumpelt werden. Lasst uns hinübergehen und sehen, ob sie auf der Ebene mit uns kämpfen wollen.«
»Würdest du das tun?« Ben Rekeros, ein in Estorea geborener Offizier, war schon über fünfzig und würde nach diesem Feldzug von seinem Posten als Schwertmeister der Zehnten Legion abtreten. Er sprach nur wenig, aber wenn er etwas sagte, hörte man besser zu. Roberto schätzte ihn sehr, weil er klug war, Stärke besaß und seine Leute zu führen verstand. »Ich an ihrer Stelle würde nicht weiter als bis zu den Hängen unter dem Lager vorrücken, und sehen, ob wir durch ihre Phalangen brechen können. Bergab haben ihre Bogenschützen eine größere Reichweite.«
»An dieser Stelle läuft es dann nicht so, wie wir es erwarten würden«, sagte Elise. »Ich denke nicht, dass sie uns ins Land locken, und ich glaube auch nicht, dass sie die Geduld haben, einfach vor uns herzumarschieren, um irgendwann einen taktischen Vorteil zu erringen. Diese Art von Geduld haben sie bisher noch nie gezeigt. Sie brauchen zu Anfang der Jahreszeit einen Sieg, und sie haben hier angehalten, weil sie hier am besten gegen uns kämpfen können. Vielleicht nicht gleich morgen, aber ich wette einen Tagessold, dass wir auf diesem Feld und an keinem anderen Ort gegen sie kämpfen werden.«
»Vergesst nicht, was ich sagte«, schaltete sich Tomas ein. »Selbst wenn sie sich nicht rühren, können sie uns hier so lange festhalten, wie ihre Geduld eben reicht. Möglicherweise ist ihnen das auch schon genug.«
»Dann meinst du wohl, dass ich mich irre?«, fragte Roberto lächelnd.
»Nein, General. Ich räume zwar ein, dass sie uns vielleicht nicht tiefer in ihr Land hineinlocken werden. Dennoch planen sie vielleicht, uns vom Nachschub abzuschneiden. Wir sind jetzt schon viel weiter vorgestoßen als die Ostfront. Ich wiederhole es: Sie lernen von uns. Sie werden nicht einfach
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