Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
nicht rasch etwas geschah. Eine Operation hätte nur dem Kalb helfen können. Er aber konnte beide retten.
Gwythen Terol war bei ihm. Sie hatte ihn über die Arbeit eines Herdenmeisters alles gelehrt, was sie wusste, und konnte ihm helfen. Schon im Alter von neun Jahren hatte er mehr gelernt, als sie je wissen würde. Als sie die Scheune betreten hatten, waren die Hinterläufe der Kuh eingeknickt. Die Schmerzen waren so stark, dass die Beine ihr Gewicht nicht mehr tragen konnten.
Sie hatte den Kopf zu Gorian herumgedreht, denn sie hatte seine Ausstrahlung gespürt, und warf ihm flehentliche Blicke zu, ihr zu helfen. Seine beruhigende Berührung erlaubte es den Hirten, Seile um ihren Bauch und über Balken zu schlingen, um sie aufzurichten, wenn der Augenblick gekommen war. Jetzt hielten zwei Männer ihren abgewandten Kopf fest, damit sie sich nicht selbst verletzte. Schon die Anstrengung, überhaupt am Leben zu bleiben, jagte Krämpfe durch ihren ganzen Körper. Ihre Lungen pumpten schwer, und sie war nass vor Schweiß.
Gorian ging auf die eine, Gwythen auf die andere Seite. Beide legten ihr die Hände auf die Flanken.
»Spürst du das Kalb?«, fragte sie.
Gorian nickte. Er ließ die heftig pulsierenden Energien der jungen Kuh in sich eindringen und filterte die Schmerzen heraus, bis er zwei schlagende Herzen spürte. Eines, das des Kalbs, war empfindlich und schlug schrecklich schnell.
»Es lebt noch, ist aber sehr aufgeregt«, sagte er. »Ich habe die Lebensenergien der Mutter durch mich geleitet. Auf diese Weise kann ich viel mehr als Gwythen fühlen, die nur allgemeine körperliche Zustände auffangen kann. Ich könnte euch jeden einzelnen Muskel, jeden Nerv und jede Ader beschreiben.«
»Wie ist das möglich?«, fragte ein Mann, dessen Stimme das Blöken der Kuh übertönte.
Gorian sah sich kurz um. Es war ein alter Mann, der nur die Stirn gerunzelt hatte, seit er vom Pferd gestiegen war. Anscheinend ein Ingenieur oder Wissenschaftler. »Ich bin mit allen Lebewesen verbunden. Wenn ich mich konzentriere, kann ich alles spüren und verändern. Allerdings erwarte ich nicht, dass Ihr das versteht, weil Ihr Euch nicht vorstellen könnt, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme.«
»Gorian, konzentriere dich auf deine Arbeit«, ermahnte ihn Marschall Vasselis, dessen stolzer, aufgeblasener Sohn neben ihm stand, die Hand an seinem Schwert, das er wohl sowieso nicht zu benutzen verstand. »Wir wissen, dass diese Kuh und ihr Kalb bald sterben werden. Jetzt wollen wir sehen, was du bewirken kannst.«
»Ja, Marschall«, sagte Gorian. »Ich muss die genaue Lage des Kalbs bestimmen. Wir wissen bereits, dass es eine Steißgeburt ist, aber vielleicht kann man es noch drehen und beide retten.«
Er beugte sich dicht über die Kuh. Sie stank nach Schweiß, Kot und Angst. Ihre Haut war faltig, und Gorian konnte einige Nerven spüren. Wenn das Tier sich aufbäumte oder seine restliche Kraft zusammennahm und sich drehte, dann konnte es ihn zerquetschen. Doch es beschränkte sich darauf, seine Schmerzen und seinen ohnmächtigen Zorn herauszubrüllen. Er atmete die starken Gerüche ein und versuchte, den Gestank auszublenden.
»Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte er ihnen beiden zu.
Die Lebenskraft der Kuh strömte unregelmäßig, sie war dem Tode nahe, und ihre Kräfte verließen sie. Gorian suchte die Stellen, wo die Energiebahnen durchtrennt oder blockiert waren, dann holte er tief Luft. Im gleichen Augenblick schauderte die Kuh heftig und erbrach Galle und Blut.
»Was ist das?«, fragte Gwythen. »Ich spüre die Anspannung in vielen Muskeln, einige sind wohl auch gerissen.«
»Ja«, sagte Gorian. »Es ist sogar noch schlimmer. Um die Gebärmutter haben sich alle Muskeln verkrampft. Das Kalb ist keine saubere Steißgeburt. Es liegt mit dem unteren Rücken vor dem Geburtskanal, und die Mutter kann sich nicht weit genug entspannen, damit es sich bewegt.« Er hob die Stimme. »Ich kann die einzelnen Energiebahnen der Muskeln in der Gebärmutter spüren und erkennen, wie sie miteinander reagieren. Jetzt muss ich meine eigene Energie nutzen, um die Energien der Kuh durch diese Bahnen zu führen, damit sich die Muskeln in der richtigen Reihenfolge zusammenziehen und entspannen. Ich hoffe, Ihr versteht, was geschehen muss, auch wenn Ihr nicht nachvollziehen könnt, auf welche Weise ich dafür sorge.«
»Wirst du dein Bewusstsein einsetzen?«, fragte der große strenge Mann, der Jhered hieß. Der Einnehmer, der sie mit
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