Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Schreie der Meute.
Langsam aber sicher löste sich die Ordnung in Haroq auf, und nicht einmal der Orden der Allwissenheit konnte die Gläubigen daran hindern, zu den Waffen zu greifen.
»Was kann ich nur tun?«, fragte er. »Mir droht die Entlassung aus dem Amt des Marschallverteidigers. Mein Titel verlangt jedoch von mir, dass ich meine Arbeit mache, statt um die Advokatin herumzuscharwenzeln und Spielen zuzuschauen, die jedes hungrige Kind in meinem Land verhöhnen und sich über jeden Blutstropfen lustig machen, der an der tsardonischen Grenze von Unschuldigen vergossen wird, die ihre Felder bestellen.«
»Ihr müsst zu Eurem Volk stehen«, sagte Megan leise, weil sie nicht sicher war, ob er überhaupt eine Antwort von ihr erwartete. »Was Ihr auch jetzt schon tut.«
»Das ist ein schwacher Trost, wenn diese Leute, die zu verteidigen ich geschworen habe, sich gegen mich und gegeneinander wenden. Die Gefängnisse sind voller Aufwiegler, von denen viele mit Tsard sympathisieren. Die Stadt und das Umland fühlen mit ihnen, aber sie begreifen nicht, was es bedeuten würde, in die Unabhängigkeit zurückzukehren. Wenn das geschehen würde, wäre Atreska ein Schlachtfeld, und ich würde sterben, bevor es überhaupt so weit kommt.«
»Darf ich offen sprechen, Marschall?«, fragte Megan.
»Bitte. Jede Lösung ist besser als das Chaos, das ich von hier aus sehe.« Er seufzte.
Über den nördlichen Stadtvierteln hing eine Rauchwolke – der Schauplatz der jüngsten Tumulte. In den Straßen war es ruhig, da die Sonnenglut am frühen Nachmittag auch den heißblütigsten Demonstranten den Eifer austrieb. Aber die Rauchwolke war eine weitere Erinnerung daran, dass Yurans Truppen in der Hauptstadt immer wieder Revolten mit Waffengewalt niederschlagen mussten. So konnte es nicht weitergehen.
»Es ist Zeit, bei der Verteidigung von Atreska ein größeres Risiko einzugehen. Folgt dem Beispiel Estoreas. Verpflichtet alle Flüchtlinge zum Dienst, gebt ihnen Waffen und bildet sie aus, und dann sollen sie hinausgehen und ihr Land verteidigen. Gebt ihnen ein Ziel. Damit nehmt Ihr ihnen den Antrieb, sich aufzulehnen. Nehmt das Geld, das eigentlich für die Steuern vorgesehen wäre, um sie zu bezahlen. Der Schatzkanzler wird die Notwendigkeit einsehen.«
»Wirklich? Schatzkanzler Jhered ist ein ausgesprochen schwieriger Verhandlungspartner.«
»Was kümmert es Euch, Marschall Yuran?« Megan errötete. »Verzeiht mir, aber wenn Ihr aus dem Amt entfernt werdet, müsst Ihr Euch nicht mehr um die Steuerlast sorgen. Wenn die Tsardonier ihre Ziele durchsetzen, gilt das Gleiche. Falls Ihr aber Erfolg habt, wird das Volk voll und ganz hinter Euch stehen, und die Konkordanz wird ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie Euch trotzdem absetzt. Ihr werdet ein Held sein, noch mehr als jetzt schon. Die Verhandlungen über die Abgaben könnt Ihr dann aus einer Position der Stärke führen.«
Yuran sah sie an. Es kam ihm vor, als wäre die Sonne durch die Wolken gebrochen und wärmte sein Gesicht. Ob dies die Schwierigkeiten mit den Tsardoniern und den Rebellen beheben würde, war mehr als zweifelhaft. Es würde aber ganz sicher die Unruhen in der Stadt beenden und den Druck von ihren Bewohnern nehmen. Vielleicht nicht nur hier, sondern auch anderswo. Sie konnten wieder ein normales Leben führen, und vor allem würde ihm diese Maßnahme Zeit erkaufen. Kostbare Zeit.
»Hole mir den Anführer der Stadtwache und den General der Legion, die uns verteidigt. Bei der prächtigen Vergangenheit der Götter von Atreska, Mädchen, das ist ein Plan, den zu verfolgen sich lohnt. Warum ist mir das nicht schon längst eingefallen?«
»Manchmal sehen wir nicht, was direkt vor uns liegt«, sagte Megan, die sich große Mühe geben musste, angesichts ihres Erfolges nicht entzückt zu strahlen.
»Danke, dass du den Mut hattest, freiheraus zu sprechen«, sagte Yuran. »Vielleicht finden wir doch noch einen Ausweg aus diesem Chaos, und wenn uns das gelingt, sollst du belohnt werden. Geh jetzt. Wir haben noch viel zu tun, wenn wir Atreska vor dem drohenden Bürgerkrieg retten wollen.«
Dieses Mal hatten die Späher sie frühzeitig bemerkt, aber es war klar, dass die Tsardonier ohnehin nicht auf das Überraschungsmoment setzten. Es war der dritte Überfall. Alle in Gullford wussten, was dies bedeutete, und waren bereit. Die Beratung in der Basilika war langwierig und gelegentlich erbittert verlaufen, aber letzten Endes hatte der Wunsch, weiter an dem selbst
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