Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
du damit?«
»In meinem Körper und meinem Kopf. Ich konnte in der Luft und im Boden Wege sehen.«
Kessians Hals wurde trocken. Das war ein wörtliches Zitat aus Gorians Schriften gewesen. Er hatte genau beschrieben, was ein Aufgestiegener sehen würde. Hesthers Hände verkrampften sich auf seinen Schultern.
»Bist du sicher?«, flüsterte er. Seine Stimme verlor sich fast im Tosen des Schmiedefeuers.
Mirron nickte. »War das richtig?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Kessian kicherte. »Oh meine Liebe, ich glaube, das war mehr als richtig.«
Bryn stellte Mirron wieder auf den Boden und bugsierte sie sanft zu Kessian hinüber. Anschließend legte der Schmied die Hände vor der Brust zu einer Schale zusammen und bildete so das traditionelle Zeichen des Ordens der Allwissenheit. Der Vater runzelte die Stirn. »Bryn, das ist doch ein wenig …«
Als er Bryns Gesicht sah, hielt er inne. Diesen Ausdruck hatte er zwei Abende zuvor bei Ossacer gesehen.
Todesangst.
8
844. Zyklus Gottes, 42. Tag des Solasauf
11. Jahr des wahren Aufstiegs
J eder Tag war für Han Jesson ein schwarzer Tag. Wenn er aufwachte, umfing ihn die Kälte der Einsamkeit, und sie holte ihn wieder ein, sobald er die Augen schloss. Die Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag vor einem Jahr in Gullford wollte nicht weichen. Die Angst in den Augen seiner Frau, ihre stumme Furcht, ihre kreischende Hilflosigkeit. Das Jammern seines Sohnes. Das Blut auf der Straße vor seinem Haus, die Leichen der Menschen, die er seit dreißig Jahren gekannt hatte. Der erstickende Brandgeruch. All das begleitete ihn, wohin er auch ging, er sah es in jedem Gesicht, dem er begegnete, und in den dunklen Narben der Häuser, die nie wieder neu gestrichen werden würden.
An die ersten Tage konnte er sich kaum erinnern. So tief war seine Verzweiflung gewesen, dass er kaum noch das Gefühl gehabt hatte, überhaupt zu leben. Nur an zwei Dinge konnte er sich noch erinnern. An das Wort »tot«, das durch seinen wirren Geist gedonnert war, und an den großen Mann. Den Einnehmer.
An den Mann, der ihm versprochen hatte, ihm seine Familie zurückzugeben. Jhered schrieb ihm zwar jedes Mal um die Zeit der Steuererhebung, aber Neuigkeiten gab es nicht. Der Beamte konnte nicht viel Hoffnung spenden, an die Han Jesson sich halten konnte.
Jeden Tag wanderte Han zum Ostrand des Dorfs und stieg auf einen der Hügel, die das Tal umringten. In der sengenden Hitze von Solastro, der entsetzlichen Kälte des Dusas und der Frische von Genastro begab er sich auf seine kurze Pilgerschaft. Während er dort saß, glitt die Welt an ihm vorbei.
Das Korn wuchs, wurde geerntet und eingelagert. Neues Vieh wurde in die Ställe getrieben. Die Geräusche von Hämmern und Sägen hallten durchs Tal, dazwischen waren die Rufe der Männer und die aufgeregten Schreie der Kinder zu hören. Händler kamen und gingen. Die Wagen der Legionen polterten durch die Straßen, die Soldaten kauften auf dem Weg zur tsardonischen Front Vorräte ein und verkauften auf dem Rückweg Beutegut. Auch die Einnehmer kamen wieder. Nicht der große Mann, sondern andere. Sie beurteilten die Fortschritte und verlangten aufgrund ihrer Erkenntnisse eine Erhöhung der Steuern. Der Bürgerkrieg rückte immer näher.
Doch weit und breit keine Spur von seiner Familie. Nichts Neues, außer dass der Feldzug Fortschritte machte, dass die tsardonische Dynastie eines Tages fallen und die Reparationszahlungen beginnen würden.
»Eines Tages«, das war für Han Jesson nicht gut genug. Es war bedeutungslos. Mit jedem Tag, an dem nichts geschah, sank seine Hoffnung ein wenig weiter.
Es war spät am Abend eines sengend heißen Tages, an dem kaum ein Windhauch die Luft abgekühlt hatte. Han hatte den größten Teil des Tages im Schatten der Felsen und Bäume gesessen und die Hügel im Osten, das Flimmern über der Straße im Süden und die Boote auf dem Fluss beobachtet. Am Vormittag hatten sich in der Ferne Reiter bewegt, aber er hätte nicht sagen können, wie viele es waren. Wahrscheinlich die Kavallerie der Konkordanz, aber wann immer er berittene Truppen sah oder hörte, schauderte er, weil die Erinnerungen scharf und schmerzlich erwachten.
Als die Sonne untergegangen war, lief Han wieder den gut ausgetretenen Weg hinab. Früher hatte er Feuer als Wegweiser angezündet und die ganze Nacht gewacht. Doch er musste sein Geschäft weiterführen, wenn seine Familie nach ihrer Rückkehr noch etwas vorfinden sollte. So zündete
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