Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
der Allwissenheit. Ich dagegen hatte immer wieder mit ihm zu tun. Die Kanzlerin lässt sich von ihrem eigenen Glauben blenden und kann nicht über die Heiligkeit der Organisation hinausblicken, der sie vorsteht.
Du hast von Elsa Gueran einiges über Koroyan erfahren, aber Elsa hat dir nicht alles erzählt. Falls einer im Dienst der Kanzlerin, und sei es nur ein Einziger, von dem, was hier vorgeht, Wind bekommt, ehe wir bereit sind, werden die Heere des Ordens hier einfallen. Sie sind natürlich nicht daran interessiert, dass irgendjemand sich Gott annähert, es sei denn durch ihre eigenen Amtsträger, nicht wahr? In ihrer Selbstgerechtigkeit werden sie Westfallen bis auf die Grundmauern niederbrennen und die Asche seiner Einwohner in der Luft verstreuen, auf dass sie von den Händen der Winddämonen gefoltert werden.
Wenn wir nicht unsere Verbündeten um uns sammeln, dann werden sie hinter der Kanzlerin stehen und nicht einmal bemerken, welches Verbrechen sie gegen alle Völkern dieser Welt verüben.«
Kessian starrte Vasselis an; er vermochte den Blick nicht vom Gesicht des Marschalls abzuwenden, aus dem die Worte nur so hervorsprudelten. Beinahe konnte er schon die brennenden Balken seiner Villa riechen und die Bürger sehen, die keinen Ort mehr hatten, an den sie sich retten konnten, während hinter ihnen aus den Häusern die Flammen emporstiegen. Voller Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung dachte er an die vielen Unschuldigen, die ihretwegen sterben mussten. Auf einmal konnte er verstehen, in welche Richtung Bryns Gedanken gewandert waren.
»Sage mir, was wir tun müssen«, erwiderte Kessian mit fester, entschlossener Stimme.
Vasselis nickte. »Du bist ein starker Mann, Ardol. Das Gute ist, dass unsere Pläne durchdacht sind. Aber vergiss nie, dass deine Freunde vom heutigen Tag an ständig in Gefahr schweben. Elsa noch mehr als alle anderen. Glaubt fest an die Sicherheit, die ich euch gewähren kann. Bleibt wachsam, während euren Bürgern allmählich dämmert, was hier vor sich geht. Geht immer und immer wieder eure Fluchtpläne durch.
Vergiss dies nicht und gib es an alle weiter, die für die Autorität verantwortlich sind, nachdem du in die Erde zurückkehrt bist: Der Aufstieg und seine Autorität sind das Einzige, was uns den Weg in die Zukunft weisen kann. Sollte es zum Schlimmsten kommen, dann schau nicht zurück und empfinde keine Schuldgefühle für diejenigen, die du zurücklassen musst, denn wenn sie fallen, werden sie die behindern, die eigentlich dich töten wollten. Wir alle haben uns für unseren Weg entschieden und werden leben oder in den Tod gehen, wie es eben geschieht.
Niemals, niemals dürft ihr zögern, einen von uns zu opfern, wenn es bedeutet, dass ihr euch selbst retten könnt.«
»Ich bete zu Gott, dass es niemals so weit kommt«, sagte Kessian.
»Jeden Tag bete ich darum«, stimmte Vasselis zu. »Aber seid bereit, damit ihr es verhindern könnt.«
Am nächsten Morgen begannen die Vorbereitungen. Kessian sollte recht behalten, Gorian hatte sich vollständig erholt, und seine Anstrengungen zeitigten keine dauerhaften Folgen. Die grauen Haare waren ebenso verschwunden wie die Falten um die Augen. Wenn man Gorian ansah, konnte man kaum glauben, dass er am Tag zuvor solche Spuren des Alters gezeigt hatte. Kessian hätte beinahe an seinem Erinnerungsvermögen gezweifelt, hätte es nicht derart viele Zeugen gegeben. Die Fähigkeit des Jungen, sich so schnell zu erholen, war ebenfalls ein ganz außerordentliches Wunder.
Dann aber legte sich ein Schatten über sie alle, als sie daran erinnert wurden, warum sie vorsichtig sein mussten und nichts über die Aufgestiegenen durchsickern lassen durften. Am Morgen fanden sie Bryn, der sich über seinem Schmiedeofen erhängt hatte.
11
846. Zyklus Gottes, 45. Tag des Solasab
13. Jahr des wahren Aufstiegs
J en Shalke war draußen im tiefen Wasser unterwegs und suchte Fischschwärme für die Boote, die auf den Wellen tanzten. Sie hatte die Aufgestiegenen zu dieser sicheren Zuflucht gebracht, wo sie über und unter den Wellen spielten konnten, und sie sich selbst überlassen, um mit ihrer Markierungsleine und der Flagge die Boote auf ihre Position aufmerksam zu machen.
Mirron hatte sie durchs klare, ruhige Wasser gleiten sehen, die Arme an die Seite gelegt und nur von ihren kräftigen Beinen getrieben. In den letzten zwei Jahren hatten sie alle von Jen die Unterwassertechniken gelernt. Vom ersten Moment an, wenn sie das Wasser
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