Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
bewusst, in welchem Konflikt sie sich befand.
»Würdest du wirklich auf deine eigenen Bürger schießen?«
»Wenn ich mich dazu gezwungen sehe, werde ich nicht zögern«, sagte er, worauf Hesther schauderte. »Es tut mir leid. Niemand wollte, dass es so weit kommt.«
»Vielleicht muss es auch nicht so weit kommen«, gab Harkov zu bedenken. »Sie sind schlecht bewaffnet und haben keine Geschütze. Nur ein Narr würde uns angreifen.«
Vasselis holte tief Luft. »Das mag sein, aber vielleicht sind sie auch nur die Vorhut.«
Er sah sich nach beiden Seiten um. Die Palisaden waren mit Leviumkriegern besetzt. Ihre Bogen lehnten an den Balken, die Schwerter steckten in den Scheiden. Der Anblick der hundert Bewaffneten sollte ausreichen, um die Neuankömmlinge auf Abstand zu halten. Falls nicht, konnten seine Männer die Katapulte und Ballisten bemannen.
Weitere einhundert caradukische Wächter waren in der Stadt einquartiert. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu den Toren zu rufen. Was da heute aufmarschiert war, reichte nicht aus, um einen Durchbruch zu erzwingen.
Als die ersten aufgewiegelten Bürger noch hundert Schritte entfernt waren, wurden sie langsamer. Sie drängten sich zusammen und blieben knapp außerhalb der Bogenreichweite stehen. Vasselis setzte wieder das Spähglas an. Die Entschlossenheit war größtenteils der Unsicherheit gewichen. Das neue Erscheinungsbild von Westfallen und dessen Verteidiger nahmen den Neuankömmlingen den Mut. Vasselis schüttelte den Kopf.
»Was werdet ihr jetzt tun?«, flüsterte er.
Er sollte die Antwort rasch erfahren. Zehn Leute lösten sich aus der Menge, die sich inzwischen auf dem freien Platz vor den Toren verteilt hatte. Der Wind wehte ein paar Rufe herüber und ließ die Flaggen und Banner knattern. Vier Ritter Gottes beschützten sechs Leser und Sprecher. Sie rückten unter dem Banner des Allwissenden an. Vasselis war sehr enttäuscht, als er Sprecherin Lotheris aus Port Roulent erkannte. Der Erste Sprecher Caraduks war nicht bei ihnen, wie er bemerkte. Hoffentlich blieb er auch weiterhin so klug, wie er sich bisher gezeigt hatte.
Lotheris ergriff das Wort, als sie zehn Schritte vor den Toren stand.
»Marschallverteidiger Arvan Vasselis …«
»Jetzt geht es los. Beschuldigungen und Forderungen«, murmelte Vasselis.
»Ihr seid der Ketzerei gegen den Allwissenden angeklagt, weil Ihr bekannte Ketzer behütet und beschützt habt; weil Ihr die Schriften verhöhnt und Gottesritter getötet habt. Wir hier sind nur eine kleine Schar, vertreten aber all jene, die über Eure Taten empört sind und widerstrebend Gerechtigkeit verlangen. Wir haben Euch und Caraduk ohne Vorbehalt treu gedient. Aber jetzt müsst Ihr vor uns Rechenschaft ablegen.«
Lotheris deutete hinter sich.
»Dies ist Euer Volk, das Euch zur Verantwortung ziehen will. Die Menschen fordern, dass Ihr Euch ergebt und Euch ihrem Urteil unterwerft. So will es das Gesetz, Ihr könnt Euch nicht weigern.«
»Euer Verständnis für die Gesetze der Konkordanz ist bemerkenswert«, antwortete Vasselis und sprach so leise, dass nur die zehn unter ihm es hören konnten. »Ich freue mich schon darauf, vor meinem Volk zu stehen und mein Handeln zu erklären. Allerdings nicht auf diese Weise. Dies ist ein Pöbel, und kein Herrscher beugt sich einem solchen Pack. Außerdem wurde dieser Pöbel durch Halbwahrheiten, Unterstellungen und die Aussagen einer ehrlosen Kanzlerin aufgestachelt, die ihrerseits in Estorr mit einer Anklage wegen Mordes rechnen muss.«
Vasselis wartete Lotheris’ Reaktion ab. Ihr standen die Schweißperlen auf der Stirn, und die aufgedunsenen Wangen waren gerötet.
»Diese kleinen Einzelheiten hat sie ausgelassen, nicht wahr? Das überrascht mich. Angeblich ist sie doch unbestechlich, wenn es um Verbrechen gegen die Konkordanz und den Allwissenden geht.« Vasselis schüttelte den Kopf. »Es gibt aber noch etwas, das Ihr nicht wisst. Ich kenne die Gesetze der Konkordanz ebenfalls recht gut. Selbstverständlich werde ich vor diese Tore treten, wie Ihr es verlangt.«
Er legte Hesther, die unwillkürlich gekeucht hatte, beruhigend eine Hand auf den Arm.
»Zuerst will ich aber den von der Advokatin unterzeichneten Haftbefehl sehen. Sie ist der einzige Mensch, der meine Festnahme befehlen darf. Das ist aber sicher nur eine Formalität. Wer von euch hat das Dokument?«
Vasselis empfand nur noch kalte Verachtung. Er wartete, während sich das Schweigen ausbreitete.
»Was wolltet Ihr mit
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