Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
weigerte er sich, auf dem Thron Platz zu nehmen. Das wäre ihm wie ein Verrat an den Resten seines treuen Volks vorgekommen. Die meisten dieser Getreuen schienen in Haroq zu leben. Es war der einzige Ort, an dem es, von der Auseinandersetzung mit den Einnehmern abgesehen, keinerlei Kämpfe gegeben hatte. Gerade fünfunddreißig Tage war es her, und doch kam es ihm vor wie die fernste Vergangenheit.
In diesen Tagen hatte er immer wieder über seine Entscheidung nachgedacht. Sein Land hatte sich wie befürchtet in ein Schlachtfeld verwandelt. Direkt nach der Rückkehr der Truppen war ihm dies noch sehr unwahrscheinlich vorgekommen. Aus Haroq hatte die Freude auf das ganze Land übergegriffen, die Menschen hatten in Chören seinen Namen gerufen und ihn gebeten, als König ihres Landes zu herrschen. Stolz hatten die Flaggen des alten Atreska geflattert. Innerhalb seines Gebiets waren sogar die Signalfeuer gelöscht worden.
Fünf volle Tage hatten sie gefeiert, bis sich bewahrheitet hatte, was Sentor Rensaark, inzwischen zum Prosentor befördert, ihm versprochen hatte. Die tsardonische Armee war, verstärkt durch Legionen der neuen atreskanischen Verbündeten, nach Westen marschiert. Die Unterstützung war so stark gewesen, dass die tsardonischen Kommandanten sogar eine große Zahl von Kämpfern hatten entbehren und nach Süden in Richtung Gestern schicken können. Da hatte Yuran das Ende der Konkordanz kommen und eine neue Macht entstehen sehen, in deren Zentrum er sich befand.
Das war jetzt ebenso eine ferne Erinnerung wie der Tag, an dem er Paul Jhered zum letzten Mal begegnet war. Der Mann machte ihm immer noch zu schaffen. Er war irgendwo da draußen unterwegs, und die Berichte über seine Taten, oder vielmehr über die Taten seiner Schutzbefohlenen, waren beängstigend, falls sie zutrafen. Er war durchaus fähig, einem Menschen in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu erkennen, und er konnte all die Geschichten, die er gehört hatte, nicht einfach abtun.
Atreska stand in Flammen. Im Westen, Süden und Norden stiegen an einem Dutzend Stellen Rauchwolken auf. Ob es tsardonische Übergriffe und Vergeltungsschläge für vermeintliche Vergehen oder gar Angriffe des Widerstandes waren, der die Fortschritte so sehr behindert hatte – draufkam es jetzt nicht mehr an. Das Endergebnis war, dass von seinem Land nach dem Krieg kaum noch etwas übrig sein würde, und er konnte nur noch voller Bangen hoffen, dass die Tsardonier siegen würden. Sein einziger Trost war, dass er Megan fortgeschickt hatte. Wenigstens war sie in Sicherheit, wer auch immer den Krieg gewann. Sie war der Konkordanz treu ergeben und würde verschont bleiben.
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Rensaark, der noch am Esstisch saß.
»Wirklich?« Yuran wandte sich am Balkonfenster um und betrachtete sich in einem Spiegel. Er war alt geworden. Graues Haar, tief in den Höhlen liegende stumpfe Augen, schlaffe Haut. Kein sehr attraktiver Anblick, falls er und Megan sich je wieder sehen sollten.
»In jedem Krieg gibt es Rückschläge«, sagte Rensaark.
»Mein Land liegt in Schutt und Asche. Alle bis auf einen Nachbarstaat sind jetzt meine Feinde. Es ist nicht sicher, dass unsere vereinten Truppen die Verteidigung von Neratharn durchbrechen können. Gott umfange mich, wie lange hat es eigentlich gedauert, uns einen Weg durch unser eigenes Gebiet zu bahnen?«
»Deshalb sind wir Verbündete«, sagte Rensaark. Er trug gute Kleidung. Eine Tunika aus feinem tundarranischem Tuch, ein Wams aus Karku-Pelzen und mit Gold bestickte Sandalen. Die Reichtümer der Konkordanz mochten für gewöhnliche Bürger nicht mehr zugänglich sein, aber die höheren tsardonischen Offiziere wussten sich zu helfen. »Uns war klar, dass wir auf Widerstand stoßen würden. Es mag länger gedauert haben, als wir dachten, aber wir haben ihn überwunden.«
Yuran kehrte zum Tisch zurück und hob sein Weinglas. Draußen war es kalt, und die Feuer im Saal vermochten kaum die Kälte zu vertreiben. In den letzten zwei Tagen hatten die ersten stärkeren Schneefälle dieses Dusas eingesetzt, und die Bedingungen draußen auf dem Schlachtfeld verschlechterten sich zusehends.
»In diesem Land ist es schwierig, bei Eis und Schnee zu kämpfen«, sagte Yuran. »Über die offenen Ebenen fegt der Wind, und die Schneewehen türmen sich so hoch, dass sie diese Burg bedecken könnten. Die Temperatur kann so tief sinken, dass einem Mann das Blut im Leib gefriert. Der Feind ist besser organisiert
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