Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
Tag des Dusasauf
15. Jahr des wahren Aufstiegs
T rotz des glücklichen Eingreifens von Nunan und Kell am Nachmittag des vergangenen Tages standen Gesteris zur Verteidigung über zweitausend Kämpfer weniger zur Verfügung als zu Beginn der Schlacht. Auf den Wehrgängen waren viele Krieger gefallen, und auch wenn nur drei Durchbrüche entstanden waren, so hatten die Tsardonier doch am ganzen Wall viele Bogenschützen und Schwertkämpfer getötet.
Er bezweifelte nicht, dass die Tsardonier erheblich mehr Soldaten verloren hatten, doch dies war ein Zermürbungskrieg, den er nicht gewinnen konnte. Jedenfalls nicht, wenn die Zahlenverhältnisse blieben, wie sie waren. Schon vor der Morgendämmerung war er nach einer langen, überwiegend schlaflosen Nacht zur Festung am Tor gegangen. Es gab noch so viel zu tun.
Draußen auf dem Feld verlegten die Tsardonier bereits ihre Wurfmaschinen. Zahlreiche Katapulte waren im Augenblick nicht zu gebrauchen, aber andere wurden neu aufgestellt. Es machte ihn halb krank, dass er nicht genau wusste, was die Gegner im Schilde führten. Er hatte einige Kundschafter ausgeschickt, die jedoch nicht zurückgekehrt waren. Leute, die zu verlieren er sich eigentlich nicht leisten konnte.
Seine Ingenieure und Handwerker hatten ohne Pause gearbeitet, um die Durchbrüche zu schließen und so gut wie möglich die Tore zu sichern. Außen hatten sich mutige Bürger abgeseilt, um lose Steine mit Mörtel zu befestigen und geborstene Balken zu ersetzen. Die ganze Nacht über hatte es Angriffe von Kavalleristen gegeben, und die Verteidiger hatten ständig unter großer Anspannung gestanden und um ihr Leben fürchten müssen. Obwohl sie gründlich gearbeitet hatten, wussten sie doch, dass ihre Bemühungen die Tsardonier nicht lange würden aufhalten können. Im Grunde war der Wall viel zu schwach, und Gesteris glaubte nicht, dass er noch lange hielt.
Jetzt wurde es wieder hell, und als Nunan und Kell ärztlich versorgt neben ihm standen, wurde rasch deutlich, was die Feinde beabsichtigten.
»Der gestrige Angriff sollte uns vor allem schwächen«, sagte er. »Die Legionen sind erschöpft und verängstigt. Ich frage mich allmählich, ob sie uns bisher überhaupt schon ernsthaft angegriffen haben.«
»Oh doch«, sagte Kell. »Ihr habt sie gezwungen, es jetzt mit aller Gewalt zu versuchen. Nehmt das als Kompliment. Sie wissen offenbar, dass Roberto kommt, sonst würden sie nicht zu solchen Maßnahmen greifen.«
»Es ist offensichtlich etwas geschehen, das sie bewogen hat, ihre Taktik zu ändern«, bestätigte Nunan.
»Und das nennt Ihr ein Kompliment?«
Gesteris deutete zum Schlachtfeld, über dem der Morgen dämmerte. Seine Befehle waren bereits weitergegeben, und nun herrschte unten ein beträchtlicher Lärm. Wenn sie Glück hatten, waren sie vielleicht noch rechtzeitig bereit. Wieder schlug ihnen das Lied der Tsardonier entgegen, und der Gesang würde womöglich noch lange zu hören sein.
Die Gegner hatten an vier Stellungen sämtliche Geschütze zusammengezogen, ausnahmslos am nördlichen Ende der Verteidigungsanlagen. Gesteris schätzte, dass jede Gruppe dreißig Katapulte umfasste. Die Bolzenschleudern waren verschwunden, zweifellos ausgeschlachtet, um die beschädigten Onager zu reparieren. Zu beiden Seiten der Wurfmaschinen standen Wagen bereit, auf denen Steine aufgetürmt waren.
Hinter den vier Geschützgruppen wartete der größte Teil der feindlichen Armee. Auch im Süden waren feindliche Kräfte aufmarschiert, die jedoch vor allem verhindern sollten, dass er dort die Truppen von den Wällen abzog. Er hoffte, Harin beobachtete die Entwicklung. Doch selbst er konnte mit seinen Leviumkriegern nicht mehr tun, als einen der Angriffe zu stören. An jedem Angriffspunkt standen schätzungsweise achttausend bis zehntausend feindliche Kämpfer. Er konnte höchstens die Hälfte davon aufbieten, und dies auch nur, wenn er alle anderen Abschnitte der Wälle völlig entblößte und auch die Verletzten nach vorne holte. Er hatte keine Reserven mehr.
»Was singen sie?«, fragte Kell. »Es klingt so traurig.« »Das ist ein Klagelied. Ein atreskanischer Verbündeter hat mir gestern einen Teil übersetzt. Es handelt vom Traum, nach Hause zurückzukehren, und vom Tod in der Schlacht. Von Ruhm ist darin nicht die Rede:
Der Morgen graut, doch meinen Atem hörst du nicht
Ich führe den Stahl, auf dass der Gegner zerbricht
Ich denke an deine Wärme, doch meine
Kraft verrinnt im Sand
Kann nicht
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