Die Kinderhexe
anderen Weg zu seinem Herzen geben. Vielleicht war seine Frau Felicitas die Antwort.
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4
Das Stift Neumünster war in einem bedauerlichen Zustand. Von den Decken und Wänden bröckelte der Putz, in das blanke Mauerwerk kroch die Feuchtigkeit, und durch die fingerbreiten Ritzen der Fenster pfiff der Wind herein. Vorbei war die Zeit, als die zahlreichen Pfründe dem Stift noch hohe Einnahmen verschafft hatten. Jetzt, da es an allem mangelte, wollte das Domkapitel keinen Gulden für die Ausbesserungsarbeiten der weitläufigen Klosteranlage zur Verfügung stellen. Die mehr als sechzig Kanoniker und Vikare zählende Stiftsgemeinschaft musste selbst sehen, wie sie zurechtkam.
Eine bescheidene Einnahmequelle fand sie in der Unterrichtung von Kindern. Die Eltern schickten ihren Nachwuchs gerne ins Stift. So konnten sie sicher sein, dass ihre Kinder eine züchtige und vor allem gottesfürchtige Ausbildung erhielten. Vikar Ludwig war einer dieser Lehrer. Er versah seinen Lehrauftrag weniger aus Überzeugung als auf Anweisung des Propsts. Die Verkündigung der Frohen Botschaft handhabte er – wie seine Kollegen auch – auf seine ganz eigene Weise.
«Du Sohn des Teufels, du bist voller List und Tücke und kämpfst gegen alles Gute.»
Ludwigs schmales Gesicht glühte vor Zorn. Er blickte auf den schmächtigen Otto herab, der wie erstarrt war.
«Wie lauten die Worte des Herrn?», wiederholte Ludwig.
Otto erinnerte sich an kein einziges Wort, das der Pfarrer zum Abschluss des Morgengebets in der Kirche von Neumünster gesprochen hatte. Er war in einen wohltuenden Schlaf gefallen, den Kopf gegen Kathis Schulter gelehnt.
«Mach endlich den Mund auf.»
Hilfesuchend blickte Otto zur Seite, wo Barbara saß. Sie formte mit ihren Lippen ein Wort:
Achtsamkeit
. Doch Otto verstand nicht.
Da krachte auch schon die Rute auf den Tisch.
«Still! Ich will es von Otto hören.» Und zu Barbara gewandt, drohend: «Untersteh dich, mich weiter zu hintergehen.»
Die Drohung war ernst zu nehmen. Ludwig war kein Mann der leeren Worte, wenn es um Züchtigung ging. Barbara senkte das Haupt. Sie konnte nur hoffen, dass die Stunde schnell vorüberging und Ludwig nicht noch einmal auf sie aufmerksam wurde.
Genauso dachten die anderen elf Schüler. Sie scheuten jeden Blickkontakt mit ihm.
Kathi wusste, was als Nächstes geschehen würde, und dennoch wollte sie nichts unversucht lassen, um ihrem Freund die Prügel zu ersparen. Sie hob zögernd die Hand.
«Ehrwürdiger Vikar, lasst mich für Otto die Worte des Herrn sprechen.»
Ungläubig drehte sich Ludwig zu ihr um. Jede Einmischung kam in seinen Augen einer Auflehnung gleich.
«Wer hat dich gefragt?», fragte er spitz.
Sie senkte den Blick. «Niemand.»
Ludwig nickte. «Korrekt, niemand.» Und wie es seine Art war, fand er auch den passenden Bibelvers dazu. «
Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.
Niemand sonst. So steht es in unserer Heiligen Schrift geschrieben. Nun, mein Kind, sag mir, bist du niemand und hast du Gott je gesehen?»
Die Frage war herausfordernd und hinterhältig. Kathi wusste keine Antwort darauf. Aber darum ging es hier auch nicht. Ludwig demonstrierte seine Macht.
«Ich habe Gott nie mit eigenen Augen gesehen», antwortete Kathi kleinlaut.
«Und warum kannst du Gott nicht sehen?»
Sie zögerte, rätselte. «Weil er für des Menschen Auge unsichtbar ist?»
Die Rute schnellte herab und traf sie quer über den Rücken.
«Nein, du dummes Gör, weil nur derjenige Gott schauen kann, der
reinen Herzens
ist. Die Sünde hat dich untauglich gemacht, das göttliche Licht und seine Allherrlichkeit zu ertragen. Darum kannst du Gott nicht sehen.» Er drehte sich zu seinen verschreckten Schülern um. «Ist hier noch ein Niemand, der Gott je gesehen haben will?»
Kein Einziger wagte zu antworten, alle hielten sie den Blick gesenkt, um ihn nicht weiter zu reizen.
Ludwig wandte sich wieder seinem ersten Opfer zu. «Zurück zu dir, Otto», sagte er versöhnlich. «Du hattest Zeit genug, dich der Worte des Herrn zu erinnern. Sag mir nun, wie lauten sie?»
Otto war sich der gespielten Freundlichkeit Ludwigs bewusst. Es gab keinen Grund zur Beruhigung, zu oft war dieser verständnisvolle Ton in handfeste Prügel umgeschlagen. Er suchte fieberhaft nach einer Antwort. Doch es war vergebens.
«Ich kenne sie nicht.»
Das waren die Worte, die Ludwig hören wollte. «Nun denn,
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