Die Kinderhexe
wichtiges Ereignis. Niemals zuvor war einem Kind so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Neugierig und fast schon ein bisschen neidisch trieben sie sich im Hof des Juliusspitals herum und versuchten zu erfahren, was hinter den verschlossenen Türen vor sich ging.
Auch Kathi und ihre Freunde waren dort gewesen. Was geschah mit Johanna? Was wollten die Erwachsenen von ihr, und wieso ließen sie sie nicht gehen?
Sie war doch nur ein Mädchen, gerade sieben Jahre alt, mit blühender Phantasie. Das wusste doch jeder. Nur die einfältigen Erwachsenen nahmen ihre Ammenmärchen ernst.
An diesem Morgen hatte der Pfarrer in Neumünster verkündet, dass Johanna der Hexerei überführt worden sei. Was sich daraus ergab, verschwieg er. Doktor Dürr würde heute bekannt geben, was weiter mit ihr geschah. Jedem war klar, was das bedeutete. Kathi mochte es nicht glauben. Ein kleines Mädchen der Hexerei zu bezichtigen, überstieg ihre Vorstellungskraft.
Nur wenige Schritte von Stift Neumünster entfernt lag die bischöfliche Kanzlei, in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes. Seit dem frühen Morgen strömten die Bürger herbei. Sie kamen nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus den umliegenden Gemeinden. Ein Brandtag war immer etwas Besonderes. Zum einen war es eine willkommene Ablenkung von der Trostlosigkeit, zum anderen bedeutete es einen festlichen Rachetag, endlich die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen zu können, die für ihre Misere verantwortlich waren.
Vor der Kanzlei war ein Viereck mit Holzstangen abgesteckt, zu allen Seiten zehn Schritte lang, in dem der Hexenkommissar seines Amtes waltete. Die Stadtknechte hatten Position bezogen und würden jedes Überschreiten der Gerichtsschranne mit ihren Spießen bestrafen. Davor drängte sich die Menge. Innerhalb der Schranne wartete ein langer, schwarz eingedeckter Tisch auf den Hexenkommissar Doktor Dürr – er war Ankläger und Richter in einer Person. Er würde die auf dem Tisch liegenden und in dunkles Schweinsleder gefassten Gesetzestexte nicht brauchen. Er kannte die erforderlichen Stellen auswendig. Ferner lag ein Holzstab bereit, rund einen halben Meter lang. Mit dem Brechen des Gerichtsstabs war jegliches Recht von den Angeklagten genommen, und das Urteil konnte vollstreckt werden.
Ludwig bahnte sich mit den Kindern einen Weg durch die Menge. Im Normalfall hätte er keinen Platz in den ersten Reihen beanspruchen können, denn jeder wollte bei der Urteilsvollstreckung ganz vorne mit dabei sein. Doch mit den Kindern war das etwas anderes. Sie sollten sehen, was mit denen passierte, die sich von Gott ab- und dem Teufel zugewandt hatten. Das war ein wichtiger Teil ihrer Erziehung.
Bereitwillig traten die Vorderen beiseite und ließen den Zug der Kinder passieren. Noch war niemand in der Gerichtsschranne zu sehen. Das Tor zur Kanzlei war ebenfalls noch geschlossen. Eine gute Gelegenheit, um die Kinder ein letztes Mal zu ermahnen.
«Passt gut auf, was mit denen geschieht, die vom rechten Weg abgekommen sind», erklärte Ludwig. «Denn den Sündern mangelt es an Kraft, dem Bösen zu widerstehen und dem Guten treu zu bleiben. Merkt euch das gut, damit ihr nicht eines Tages auch hier steht.» Ein Bibelvers sollte das unterstreichen. «Denn so steht es geschrieben:
Zieht die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die Listen des Teufels bestehen könnt
.»
Es bedurfte keiner weiteren Hinweise. Die Kinder nahmen nicht zum ersten Mal an einer Hinrichtung teil. Sie wussten, wieso sie hier waren. Später würden sie ihren Eltern Rede und Antwort stehen müssen und ihnen versprechen, dass sie keinen anderen als Gott, den Allmächtigen im Himmel, anbeten würden.
Kathi, Barbara und Otto suchten sich am äußeren Rand einen Platz. Von hier aus hatten sie einen guten Blick über die Anwesenden.
«Hast du sie schon gesehen?», fragte Barbara.
Ihr Blick glitt über die vielen Gesichter hinweg.
Kathi verneinte. «Sie kommt immer etwas später. Das weißt du doch.»
«Heute soll sie sich aber beeilen», fügte Otto hinzu, der sich den schmerzenden Rücken rieb. «Ich habe noch nichts gefrühstückt.»
«Hat dir der Schmied wieder nichts zu essen gegeben?», fragte Kathi.
«Er lässt mich die ganze Zeit aus der Bibel lesen, während er und seine Familie essen. Ich darf froh sein, wenn ein paar Krümel vom Tisch fallen.»
Barbara nahm ihn in den Arm. «Hab Geduld. Irgendwann sind wir erwachsen, dann können wir uns den Bauch vollschlagen, so oft wir wollen.»
«Wie
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