Die Kinderhexe
Geldnot schwebte. Nach Abzug der Verfahrenskosten – für die der Angeklagte selbst aufkommen musste – würde der verbleibende Rest an ihn fallen. So hatte er es im Überschwang und bei reichlich Wein im Gasthaus verkündet. Er war damit nicht auf dem neuesten Stand gewesen, denn die Verwandten von überführten Hexenleuten waren in letzter Zeit selbst unter Verdacht geraten. Also war ihm der Boden zu heiß geworden, und er war geflüchtet.
Als Zweiter sollte der Schultheiß Haag vom Leben zum Tode gebracht werden. Er war von einer zwielichtigen Gestalt, einem Spielmann aus Heidingsfeld, des Bündnisses mit dem Teufel bezichtigt worden, nachdem dieser selbst unter der Folter den Teufelsbund eingestanden hatte. Haags Beteuerung, der Spielmann beschuldige ihn aus Rache, weil er ihm einst zwanzig Stockhiebe als Strafe auferlegt habe, blieb vergeblich. Niemand wollte davon hören. Wie alle anderen auch hatte Haag im Verlauf des Verfahrens gestanden.
Weniger dramatisch verhielt es sich mit den fünf anderen. Es waren Fremde, Durchreisende und Vagabunden, die niemand kannte und um die sich niemand scherte. Sie sollten ein weithin leuchtendes Beispiel dafür geben, dass man in Würzburg keine Gnade kannte mit finsteren Gestalten.
Bei der letzten Angeklagten hingegen handelte es sich um jemand Besonderen. Es war die siebenjährige Johanna. Sie war das sechste Kind des Mainfischers Wilhelm Klauber und seiner Frau Agnes, zweier rechtschaffener Bürger der Stadt. Die Klaubers waren beliebt, jeder achtete sie und hielt sie für gute Christenmenschen. Nicht zuletzt, weil sie sich viel Mühe mit ihren Kindern gaben und sie zum Unterricht zu Schulmeister Friedrich schickten, einem studierten Rechtsgelehrten, der sich auf seine alten Tage mit der Kindererziehung ein Zubrot verdiente.
Johanna war ein verträumter Geist, der den Kopf ständig in den Wolken hatte. Anstatt die Zehn Gebote und das Vaterunser auswendig zu lernen, zog es sie zu den Märchen. Sie brauchte eine Geschichte nur einmal zu hören, und schon konnte sie sie mühelos wiedergeben.
Wenn Kathi und ihre Freunde vor dem Abendgebet am Mainufer zusammenkamen und sie gar nichts aufmuntern wollte, erzählte Johanna eine ihrer Geschichten und entführte sie so in eine andere Welt. Dort gab es Essen und Trinken im Überfluss, Schläge gegen Kinder wurden umgehend gerächt, und Zauberer brannten nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern waren Königen und Prinzessinnen gleichgestellt.
Nach einigen Wochen Unterricht bei Friedrich legte sich Johannas Begeisterung für Märchen. Die Geschichten, die sie fortan erzählte, kreisten nur noch um eine Person. Sie nannte sie die alte Frau Holle. Diese lebte im Himmel, und ab und an kam sie auf die Erde, um die Menschen auf die Probe zu stellen. Dazu verkleidete sie sich als Bettlerin und klopfte für ein Almosen an die Türen. Wurde ihr gegeben, war alles gut. Verweigerte man ihr aber die Hilfe oder jagte sie gar davon, war das Leben verwirkt.
Johanna übernahm in diesem tödlichen Spiel die Rolle eines Hilfsgeistes. Wann immer die Holle auf Erden kam, zauberte Johanna aus einer Handvoll Heu bunte Vögel, die im Auftrag der Holle nach Menschen Ausschau hielten.
Zu Anfang dachten sich Kathi und ihre Freunde nichts dabei. Es war Johannas Art, mit der strengen Zucht Friedrichs umzugehen. Jedes Kind musste dies auf seine eigene Art bewältigen, und ihre war es eben, eine neue Figur zu erfinden, die es den bösen Erwachsenen heimzahlte.
Als die Geschichte in der bischöflichen Kanzlei bekannt wurde, erregte sie die Aufmerksamkeit des umtriebigen Hexenkommissars Doktor Dürr. Der war sich durchaus bewusst, was für Phantasien ein Kind entfalten konnte, doch er hatte erst wenige Wochen zuvor ein sechzehnjähriges Mädchen auf den Scheiterhaufen gebracht, das von einer Hexe Hoff gesprochen hatte. Dieses niederträchtige Weib sei an dem ganzen Hexenunwesen schuld, das die Stadt seit Jahren plagte. Wer das Weib sei, wollte Dürr wissen, und wo er es gefangen nehmen könne. Darauf wusste das Mädchen keine Antwort, und der Hexenjäger ließ sie dafür im Feuer büßen.
Erst Johanna brachte ihn wieder auf die Spur. Ihre Erzählungen von der Hexe Holle deckten sich in weiten Teilen mit den Berichten über die Hexe Hoff, sodass er davon ausgehen musste, es handle sich um ein und dieselbe Person. Er ließ die kleine Johanna ins Juliusspital bringen, wo sie festgehalten und befragt wurde.
Die Kinder betrachteten Johannas Festnahme als
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