Die Kinderhexe
unter das Kinn fuhr und es anhob, bis Kathi erkennen konnte, um wen es sich handelte.
Es war Ursula. Sie hielt die Augen geschlossen. Aus Erschöpfung, nicht aus Scham. Daran gab es keinen Zweifel.
«Ist sie eine Hexe?»
Ursula hörte nicht oder konnte nicht mehr hören. Daher half Faltermayer nach. Er hob den Stock an, ließ ihn dann wieder sinken – ein Nicken.
«Die Zeugin bejaht die Frage.»
Der Malefizschreiber notierte es.
«Das genügt. Schafft sie weg.»
Kathi nahm es nur noch weit entfernt wahr. Der Schmerz hatte sie abgestumpft. Er nahm ihr alle Sinne, sodass sie weder hören noch richtig sehen konnte.
Bilder aus glücklichen Tagen traten vor ihre Augen, die sie geschlossen hielt. Sie war im Wald, ganz in der Nähe von Babettes Hütte. Es war Frühling, die Bienen summten, und die Gräser blühten. Otto und Barbara spielten Versteck, Kathi beobachtete sie von einem Baum aus. In der Hand hielt sie ein Brot mit Honig. Ursula kam in ihrem dünnen Kleidchen, strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute zu ihr herauf. Lächelte.
Komm spielen.
Da wurde ihr Kopf nach oben gerissen. Grit stand vor ihr, und wenn sie nicht alles täuschte, auch dieses Mädchen aus dem Juliusspital, das sie einst besucht hatte. Auch sie wollte zum Schalksberg aufgefahren sein. Wie lautete noch ihr Name? Sie hatte ihn vergessen. Nichts sehnlicher als eine Familie hatte sich dieses Mädchen gewünscht. Würde ihr Traum jetzt in Erfüllung gehen?
Sie sagte: «Ja, sie ist eine Hexe. Ich weiß es genau.»
Und Grit? Was sagte ihre Komplizin und Schwester im Leid dazu?
«Hexe!»
Damit waren es drei Zeugen, die sie der Hexerei beschuldigten. Das sollte reichen. Nun fehlte nur noch ihr Geständnis.
Aber Faltermayer gab sich damit nicht zufrieden. Er wollte Sicherheit, und je mehr Zeugen sie als Hexe erkannten, desto größer wäre die Bestürzung bei den Bürgern.
Pfarrer Ludwig erkannte sie an seinem Rosenkranz. Sollte sie noch darauf bekennen? Was für ein lächerlicher Gedanke. Ihre Lippen zuckten. Sie spürte ein erschöpftes Lächeln darauf.
Ludwig war nicht alleine gekommen. Die Zwillinge, Lene und Lotti, in sauberen Kleidchen, gewaschen und gebürstet, standen an seiner Seite. Einst hatte sie geschworen, sie mit einem Lächeln zum Scheiterhaufen zu führen. Dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, wie so vieles unerledigt blieb und nicht in Erfüllung gegangen war, was sie sich vorgenommen hatte.
Würde Babette ihr das verzeihen?
Nun würden Lene und Lotti sie mit ihrer Aussage auf dem kürzesten Weg in die Hölle schicken.
«Ist sie eine Hexe?»
Kathi harrte der Antwort. Lene und Lotti schauten sie aus ihren toten Augen stumm an.
«Ist sie eine Hexe?», wiederholte Faltermayer scharf.
Ludwig beugte sich zu ihnen herab.
«Habt ihr verstanden, Kinder? Meister Faltermayer hat euch eine Frage gestellt.»
Doch die Zwillinge achteten nicht darauf. Sie schauten Kathi schweigend an.
Faltermayers Stock sauste herab und traf Kathi an den Beinen.
«Ist sie eine Hexe, verdammt? Nun sprecht endlich, bevor ich euch aufziehen lasse.»
Die Situation war den Zwillingen wohlvertraut. All die Jahre hatten sie den Unterweisungen beigewohnt und ihren Spaß dabei gehabt. Nun sollte das ein Ende haben.
«Nein, sie ist keine Hexe», sagte Lene.
Und Lotti fügte hinzu. «Sie war niemals auf dem Schalksberg. Lasst sie frei.»
Ludwig war der Erste, der begriff. «Aber, Kinder … Was sagt ihr da?»
«Sie ist keine Hexe. Lasst sie frei», wiederholte Lene mit fester Stimme.
Kathi musste lächeln. Sie sah Faltermayers Gesicht, der wohl mit allem gerechnet hatte, nur nicht mit dem Widerstand zweier Kinder, die seit Tagen kein Wort mehr von sich gegeben hatten.
Ebenso versteinert schaute der Malefizschreiber. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemals ein Zeuge im Folterkeller eine Angeklagte freigesprochen hatte.
Kathis Kehle brannte wie Feuer. Sie hatte seit Stunden nichts mehr getrunken. Unmöglich, auch nur einen Laut zu formen. Doch diese Gelegenheit durfte sie nicht verstreichen lassen. Es war ihr Triumph und zugleich Faltermayers Niederlage. Sie sammelte alle Kraft, die sie noch besaß, um ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern.
«Ihr habt sie gehört.
Keine Hexe …
»
Dann traf sie der Stock, und wieder kippte sie zur Seite auf den Boden. In der Kammer nebenan sah sie Apotheker Grein in seinem Blut liegen. Er rang nach Luft, sein Blick begegnete ihrem, und er schrie herüber: «Hexenbrut.»
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