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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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kann ich für Sie tun?«
    »Ich würde gern Mitglied werden.«
    »Gewiss. Ich lasse Sie nur diese beiden Formulare ausfüllen, und dann müssen Sie sich ausweisen.« Sie reicht ihm ein Klemmbrett und einen Stift.
    Er schaut sich das erste Formular an. Name, Adresse, Alter, Arbeitsstelle. »Zu Ihnen müssen Seeleute von einlaufenden Schiffen kommen«, bemerkt er. »Müssen die auch Formulare ausfüllen?«
    »Sind Sie Seemann?«, fragt die Frau.
    »Nein, ich arbeite im Hafen, aber ich bin kein Seemann. Ich erwähne Seeleute, weil sie nur für ein oder zwei Nächte an Land sind. Müssen sie Mitglieder werden, wenn sie hierherkommen?«
    »Man muss ordentliches Mitglied sein, um die Einrichtung nutzen zu können.«
    »Und wie lang dauert es, bis man ordentliches Mitglied ist?«
    »Nicht lang. Aber danach müssen Sie einen Termin bei einer Therapeutin vereinbaren.«
    »
Ich
muss einen Termin vereinbaren?«
    »Sie müssen auf die Liste einer unserer Therapeutinnen aufgenommen werden. Das kann etwas dauern. Ihre Listen sind oft voll.«
    »Wenn ich also einer von den Seeleuten wäre, die ich erwähnt habe, ein Seemann mit nur einer Nacht oder zwei an Land, dann hätte es keinen Sinn, hierher zu kommen. Mein Schiff wäre wieder auf hoher See, bis ich einen Termin bekäme.«
    »Salón Confort ist nicht für Seeleute vorgesehen, Señor. Seeleute werden ihre eigenen Einrichtungen dort haben, wo sie herkommen.«
    »Sie mögen ihre eigenen Einrichtungen daheim haben, aber sie können sie nicht nutzen. Weil sie hier sind und nicht dort.«
    »In der Tat: Wir haben unsere Einrichtungen, sie haben ihre.«
    »Ich verstehe. Wenn Sie mir nicht verübeln, dass ich das sage, Sie sprechen wie eine Absolventin des Instituts – Institut für Weiterbildung wird es genannt, glaube ich.«
    »Wirklich.«
    »Ja. Von einem der Philosophiekurse. Vielleicht Logik. Oder Rhetorik.«
    »Nein, ich habe keinen Abschluss von diesem Institut. Also: haben Sie sich entschieden? Wollen Sie den Antrag stellen? Wenn ja, dann füllen Sie doch bitte jetzt die Formulare aus.«
    Das zweite Formular bereitet ihm größere Schwierigkeiten als das erste.
Antrag für eine persönliche Therapeutin
, ist es überschrieben.
Benutzen Sie den freien Raum unten, um sich und Ihre Bedürfnisse zu beschreiben.
    »Ich bin ein normaler Mann mit normalen Bedürfnissen«, schreibt er. »Das heißt, meine Bedürfnisse sind nicht übertrieben. Bis vor kurzen war ich der Vollzeitbetreuer eines Kindes. Seit ich das Kind weggegeben habe (meine Vormundschaft beendet habe), bin ich etwas einsam gewesen. Habe nicht gewusst, was ich mit mir anfangen soll.« Er wiederholt sich. Das kommt, weil er einen Kuli benutzt. Wenn er einen Bleistift mit Radiergummi hätte, könnte er sich prägnanter vorstellen. »Ich brauche ein geneigtes Ohr, um mein Herz auszuschütten. Ich habe eine gute Freundin, doch seit kurzem ist sie in Gedanken woanders. Meiner Beziehung zu ihr fehlt echte Intimität. Nur unter den Bedingungen der Intimität kann man sein Herz ausschütten, finde ich.«
    Was noch?
    »Ich hungere nach Schönheit«, schreibt er. »Weiblicher Schönheit. Ich bin etwas ausgehungert. Ich sehne mich nach Schönheit, die nach meiner Erfahrung Ehrfurcht weckt und auch Dankbarkeit – Dankbarkeit für das große Glück, eine schöne Frau in seinen Armen halten zu dürfen.«
    Er überlegt, ob er den ganzen Absatz über die Schönheit streichen soll, tut es aber dann doch nicht. Wenn er beurteilt werden soll, dann mag es eher aufgrund der Regungen seines Herzens geschehen, als der Klarheit seiner Gedanken. Oder seiner Logik.
    »Das soll nicht heißen, dass ich kein Mann mit den Bedürfnissen eines Mannes bin«, schließt er energisch.
    Qué tontería
! Was für ein Durcheinander! Welch moralische Verwirrung!
    Er gibt die beiden Formulare ab. Die Empfangsdame liest sie durch – gibt nicht vor, es nicht zu tun – von Anfang bis Ende. Sie sind allein im Warteraum. Keine Hauptgeschäftszeit. Schönheit weckt Ehrfurcht: Entdeckt er den Ansatz eines Lächelns, als sie zu dieser Äußerung kommt? Ist sie schlicht und einfach eine Empfangsdame oder hat sie eigene Erfahrungen mit Dankbarkeit und Ehrfurcht?
    »Sie haben vergessen, ein Feld anzukreuzen«, sagt sie. »Länge der Sitzungen: 30 Minuten, 45 Minuten, 60 Minuten, 90 Minuten. Welche Länge bevorzugen Sie?«
    »Sagen wir, die maximale Erleichterung: neunzig Minuten.«
    »Es kann eine Weile dauern, bis Sie eine 90 -Minuten-Sitzung bekommen. Wegen der

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