Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Inés’ Sohn, aber du liebst nicht nur Inés. Du liebst auch mich. Du liebst Diego und Stefano. Du liebst Álvaro.«
»Nein.«
»Das ist schade. Bolívar ist also fort. Wo ist er denn hin, was glaubst du?«
»Er ist zurückgekommen. Inés hat sein Fressen rausgestellt und er ist zurückgekommen. Jetzt will sie ihn gar nicht mehr rauslassen.«
»Bestimmt ist er nur nicht an sein neues Zuhause gewöhnt.«
»Inés sagt, das kommt, weil er Hundefrauen riecht. Er möchte sich mit einer Hundefrau paaren.«
»Ja, das ist eins der Probleme, wenn man einen Hundemann hält – er möchte mit den Hundefrauen zusammen sein. Das ist seine Natur. Wenn Hundemänner und Hundefrauen sich nicht mehr paaren wollten, würden keine Hundebabys mehr geboren, und nach einer Weile gäbe es dann überhaupt keine Hunde mehr. Es ist deshalb vielleicht das Beste, wenn man Bolívar ein bisschen Freiheit lässt. Wie schläfst du denn inzwischen? Schläfst du besser? Sind die bösen Träume verschwunden?«
»Ich habe von dem Schiff geträumt.«
»Von welchem Schiff?«
»Von dem großen Schiff. Wo wir den Mann mit dem Hut gesehen haben. Den Piraten.«
»Den Lotsen, nicht den Piraten. Was hast du geträumt?«
»Es ist gesunken.«
»Es ist gesunken? Und was geschah dann?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Die Fische sind gekommen.«
»Nun, ich werde dir erzählen, was geschehen ist. Wir wurden gerettet, du und ich. Wir müssen gerettet worden sein, wieso wären wir sonst jetzt hier? Es war also nur ein böser Traum. Fische fressen sowieso keine Menschen. Fische sind harmlos. Fische sind gut.«
Es ist Zeit umzukehren. Die Sonne geht unter, die ersten Sterne erscheinen am Himmel.
»Siehst du die beiden Sterne dort, wohin ich zeige – die zwei hellen da? Das sind Zwillinge, sie werden so genannt, weil sie immer zusammen sind. Und dieser Stern dort, gleich über dem Horizont, mit dem rötlichen Schimmer – das ist der Abendstern, der erste Stern, der erscheint, wenn die Sonne untergeht.«
»Sind die Zwillinge Brüder?«
»Ja. Ich vergesse ständig ihre Namen, aber einst waren sie berühmt, so berühmt, dass sie zu Sternen wurden. Vielleicht kann sich Inés an die Geschichte erinnern. Erzählt dir Inés manchmal Geschichten?«
»Sie erzählt mir Gutenachtgeschichten.«
»Das ist gut. Wenn du erst einmal lesen gelernt hast, bist du nicht mehr auf Inés oder mich oder sonst wen angewiesen. Du kannst dann alle Geschichten der Welt lesen.«
»Ich kann lesen, aber ich will nicht. Mir gefällt es, wenn Inés mir Geschichten erzählt.«
»Ist das nicht ein bisschen kurzsichtig? Das Lesen wird dir neue Fenster öffnen. Was für Geschichten erzählt dir denn Inés?«
»Geschichten von dritten Brüdern.«
»Geschichten von dritten Brüdern? Da kenne ich keine. Wovon handeln sie?«
Der Junge bleibt stehen, faltet die Hände vor der Brust, starrt in die Ferne und beginnt zu reden.
»Es waren einmal drei Brüder und es war Winter und es schneite und die Mutter sagte, Brüder Drei, Brüder Drei, ich spüre große Schmerzen in mir und ich fürchte, ich muss sterben, wenn nicht einer von euch die Weise Frau sucht, die das kostbare Heilkraut bewacht.
Da sagte der Erste Bruder, Mutter, Mutter, ich werde die Weise Frau finden. Und er zog seinen Mantel an und ging hinaus in den Schnee und er traf einen Fuchs und der Fuchs sagte zu ihm: Wohin gehst du, Bruder? Und der Bruder sagte: Ich suche die Weise Frau, die das kostbare Heilkraut bewacht, deshalb habe ich keine Zeit, mit dir zu plaudern, Fuchs. Und der Fuchs sagte: Gib mir zu essen, dann zeige ich dir den Weg, und der Bruder sagte: Geh mir aus dem Weg, Fuchs, und er trat nach dem Fuchs und ging in den Wald und man hörte nie wieder von ihm.
Da sagte die Mutter: Brüder Zwei, Brüder Zwei, ich spüre große Schmerzen in mir und ich fürchte, ich muss sterben, wenn nicht einer von euch die Weise Frau sucht, die das kostbare Heilkraut bewacht.
Da sagte der Zweite Bruder: Mutter, Mutter, ich werde gehen, und er zog seinen Mantel an und ging in den Schnee hinaus und er traf einen Wolf und der Wolf sagte: Gib mir zu essen und ich zeige dir den Weg zu der Weisen Frau, und der Bruder sagte: Geh mir aus dem Weg, Wolf, und trat nach ihm und ging in den Wald und man hörte nie wieder von ihm.
Da sagte die Mutter: Dritter Bruder, Dritter Bruder, ich spüre große Schmerzen in mir und fürchte, ich muss sterben, wenn du mir nicht das kostbare Heilkraut bringst.
Da sagte der Dritte
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