Die Klaue des Schlichters
gegenüberstand, erkannte ich zum erstenmal, daß er sich auf der Bühne weniger verrückt stellte als im täglichen Leben vernünftig und beschränkt demütig. Ich überlegte mir, inwieweit er den Aufbau des Stücks beeinflußt habe, obwohl es vielleicht auch nur so war, daß Dr. Talos seinen Patienten (und das hatte er gewiß) besser verstanden hatte als ich.
Wir durften natürlich die Höflinge des Autarchen nicht so in Schrecken versetzen wie die Bauersleute. Baldanders sollte mir die Fackel entwinden, mir augenscheinlich den Rücken brechen und die Szene damit beenden. Das tat er nicht. Ob er so verrückt war, wie er vorgab, oder über unser wachsendes Publikum wirklich erzürnt war, wußte ich nicht. Vielleicht stimmen beide Erklärungen.
Wie dem auch sei, jedenfalls riß er mir die Fackel aus der Hand und stürmte, sie schwenkend, daß das brennende Öl als Feuerregen um ihn flog, auf die Zuschauer los. Mein Schwert, womit ich vorhin Dorcas’ Kopf bedroht hatte, lag nahe meinen Füßen, so daß ich mich instinktiv danach bückte. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, wütete Baldanders mitten im Publikum. Die Fackel war verloschen, aber er schlug damit um sich wie mit einer Keule.
Jemand feuerte eine Pistole ab. Das Geschoß setzte sein Kostüm in Brand, mußte aber seinen Leib verfehlt haben. Mehrere Beglückte hatten ihr Schwert gezückt, und jemand – ich konnte nicht sehen wer – besaß jene rarste aller Waffen, einen Traum. Er strömte wie purpurner Rauch, jedoch viel schneller, dahin und hatte den Riesen binnen eines Augenblicks eingehüllt. Es schien, als wäre er von allem Vergangenem und vielem, was noch nie dagewesen, umzingelt: eine grauhaarige Frau entwuchs seiner Seite, ein Fischerboot schwebte unmittelbar über seinem Kopf und ein kalter Wind peitschte die Flammen, die ihn umzüngelten.
Dennoch schienen die Visionen, die Soldaten angeblich willen- und hilflos erstarren lassen und schwer auf ihrem weiteren Geschick lasten, bei Baldanders nicht zu wirken. Er stürmte weiter voran und bahnte sich mit der Fackel gewaltsam einen Weg.
Im nächsten Moment, den ich noch abwartete (denn ich hatte bald wieder soviel Fassung erlangt, von diesem verrückten Kampf zu fliehen), sah ich dann, wie mehrere Gestalten ihre Mäntel und – wie es schien – auch ihre Gesichter abwarfen. Unter diesen Gesichtern, die so unstofflich wirkten wie die Notulen, sobald sie nicht mehr getragen wurden, offenbarten sich solche Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte: ein kreisrunder Mund, von nadelspitzen Zähnen eingesäumt; Augen, die tausend Augen in einem waren, angeordnet wie die Schuppen eines Tannenzapfens; Kiefer wie Zangen. Diese Dinge sind mir im Gedächtnis geblieben wie alles andere auch, und ich habe sie in den dunklen Wachen der Nacht oft wieder angestarrt. Wenn ich mich schließlich erhebe und den Blick zu den Sternen und den mondbeschienenen Wolken richte, bin ich sehr froh, daß ich nur diejenigen in der Nähe unseres Rampenlichts gesehen habe.
Wie schon erwähnt, bin ich geflohen. Aber diese kleine Verzögerung, wobei ich Terminus Est aufhob und Baldanders wilden Angriff beobachtete, wäre mir fast teuer zu stehen gekommen; als ich mich abkehrte, um Dorcas in Sicherheit zu bringen, war sie verschwunden.
Ich rannte, nicht so sehr vor dem tobenden Baldanders oder den Cacogens im Publikum oder den Prätorianern des Autarchen (die gewiß bald einträfen), sondern um Dorcas zu finden. Ich suchte und rief sie beim Namen, stieß aber auf nichts anderes als die Wälder, Brunnen und jähen Schächte dieses endlosen Gartens; schließlich hörte ich, außer Atem und mit schmerzenden Beinen, zu laufen auf und ging.
Es ist mir unmöglich, meine ganze Bitterkeit, die ich damals empfunden habe, aufs Papier zu bringen. Dorcas endlich gefunden und so rasch wieder verloren zu haben, schien mehr, als ich ertragen konnte. Frauen glauben –oder tun wenigstens oft so –, daß unsere ganze Zärtlichkeit für sie unserem Begehren entspringt; daß wir sie lieben, wenn wir sie eine Zeitlang nicht besessen haben, und sie zurückstoßen, wenn wir befriedigt, oder besser gesagt erschöpft sind. An dieser Vorstellung ist nichts wahr, auch wenn oft ein solcher Eindruck erweckt wird. Wenn wir starr vor Verlangen sind, geben wir gern große Zärtlichkeit vor in der Hoffnung, dieses Verlangen erfüllen zu können; aber zu keinem anderen Zeitpunkt können wir so leicht zu Frauen brutal werden und so
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