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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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leuchtender Nebel, der bald farblos, bald von einem schmutzigen, gelblichen Grün schien. Ich hatte keine Ahnung, wie weit die Erscheinung entfernt war. Jedenfalls schien sie keine bestimmte Form zu haben. Eine Zeitlang schimmerte das Licht vor meinen Augen, und ich hielt –nach wie vor dem Strom folgend – darauf zu. Dann gesellte sich ein zweites hinzu.
    Es fällt mir schwer, mich auf die Ereignisse der folgenden Minuten zu konzentrieren. Wohl jeder birgt in seinem Unterbewußtsein gewisse Schreckensmomente, wie unsere Oubliette im tiefsten bewohnten Geschoß jene Klienten birgt, deren Verstand vor langer Zeit lahmgelegt oder in ein nicht mehr menschliches Bewußtsein umgewandelt worden war. Gleichsam wie diese kreischen solche Erinnerungen auf und klirren mit den Ketten gegen die Wände, werden jedoch selten so hoch gebracht, um ins Tageslicht zu kommen.
    Was ich in diesem Berg erlebt habe, bleibt mir, wie diese uns geblieben sind: etwas, das ich in den tiefsten Winkeln meines Geistes aufzuspüren trachte, dessen ich aber nur hin und wieder gewahr werde. (Vor nicht allzu langer Zeit, als die Samru noch in der Nähe der Gyoll-Mündung lag, blickte ich bei Nacht über die Heckreling; dort betrachtete ich die eintauchenden Ruder, von denen jedes wie eine Flamme phosphoreszierenden Feuers wirkte, und dachte schon, jene vom Innern des Berges seien gekommen, um mich endlich zu holen. Zwar unterstehen sie mir nun, aber das ist mir kein großer Trost.)
    Dem Licht, das ich gesehen hatte, gesellte sich, wie gesagt, ein zweites hinzu, den zweien ein drittes, den dreien ein viertes, und ich ging immer noch weiter. Bald konnte ich die Lichter nicht mehr zählen; nicht wissend, worum es sich handle, erleichterte mich der Anblick, denn ich stellte mir vor, das Funkeln rühre von einer Art Fackel her, die mir unbekannt war, einer Fackel in der Hand der Wächter, die im Brief angekündigt waren. Als ich weitere zwölf Schritte gegangen war, sah ich, wie die Lichtflecken zu einer Form verschmolzen, zur Form einer auf mich gerichteten Speer- oder Pfeilspitze. Dann vernahm ich sehr schwach ein solches Gebrüll, wie ich es oft vom Turm namens Bär gehört hatte, wenn die Raubtiere gefüttert wurden. Sogar jetzt noch, denke ich, hätte ich entkommen können, wenn ich kehrtgemacht und das Hasenpanier ergriffen hätte.
    Was ich nicht tat. Das Gebrülle wurde lauter – es war weder ein tierischer Laut noch das Geschrei eines Menschenhaufens in höchster Raserei. Ich bemerkte, daß die Lichtpunkte nicht gestaltlos waren, wie ich bis jetzt angenommen hatte. Vielmehr hatte jeder die in der Kunst als Stern bezeichnete Form mit fünf ungleichen Spitzen.
    Erst jetzt blieb ich – viel zu spät – stehen.
    Inzwischen leuchtete das Ungewisse, farblose Licht dieser Sterne so hell, daß ich wie lauernde Schatten die mich umgebenden Gestalten entdeckte. Zu beiden Seiten standen Gebilde, deren Winkeligkeit auf Menschenwerk hindeutete – scheinbar wandelte ich durch die versunkene Stadt der Alten (hier nicht unter der Last übergelagerter Erdmassen eingestürzt), wo die Bergleute von Saltus ihre Schätze förderten. Zwischen den wuchtigen Gebilden ragten viereckige Säulen auf, und zwar in geordneter Unregelmäßigkeit, wie sie mir zuweilen in Holzstößen aufgefallen ist, worin kein Scheit bündig liegt, aber alles zusammen ein Ganzes ist. Auf diesen Säulen schimmerte das Totenlicht der beweglichen Sterne, die es weniger gespenstisch oder zumindest schöner als empfangen zurückwarfen.
    Zunächst bestaunte ich diese Säulen; dann richtete ich den Blick wieder auf die sternartigen Erscheinungen und sah sie zum ersten Mal. Ist es dir schon einmal passiert, daß du dich nachts zu einem Hüttenfenster geschleppt hast, das sich dann als Signalfeuer einer großen Festung entpuppt hat? Oder du beim Klettern ausgeglitten bist, dich abgefangen und hinuntergeblickt hast, und der Fall hundertmal tiefer als angenommen gewesen ist? Wenn ja, wirst du mir nachempfinden können, was ich gefühlt habe. Die Sterne waren keine funkelnden Lichter, sondern menschenähnliche Gestalten, die nur deshalb so winzig wirkten, weil die Höhle, in der ich mich befand, von ungeahnter Größe war. Und diese Gestalten, die keine Menschen zu sein schienen, war ihre Erscheinung doch unmenschlich breitschultrig und verzerrt, stürmten auf mich zu. Das Gebrülle, das ich vernahm, kam aus ihren Kehlen.
    Ich wandte mich um und erklomm, da ich, wie sich zeigte, nicht durchs Wasser

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