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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Befürchtung, ich könnte es verlieren, nicht halb wahnsinnig gemacht; aber wie es schien, verstanden sie mich. Sie fingen zu murmeln an und gaben mir – ohne aufzustehen – Zeichen, daß sie nicht mehr kämpfen würden, wobei sie ihre Keulen und Speere aus gespitzten Knochen vorstreckten, auf daß ich sie nähme.
    Dann vernahm ich neben dem Rauschen des Wasser und dem Gemurmel der Menschenaffen einen neuen Laut, der mich sofort verstummen ließ. Wenn ein Oger von den Säulen der Welt fräße, würde das Knirschen seiner Zähne genauso klingen. Das Bett des Baches (worin ich noch stand) bebte unter meinen Füßen, und das Wasser, das bisher so klar gewesen war, führte eine feine Schlammwolke, als würde sich eine Rauchfahne durch den Strom winden. Von tief unten hörte ich einen Schritt wie das Stapfen eines Turmes am Jüngsten Tag, wenn alle alten Städte von Urth, wie man sagt, sich aus Staub und Schutt erheben und der Dämmerung der Neuen Sonne entgegenschreiten.
    Und dann einen zweiten.
    Mit einemmal erhoben sich die Menschenaffen und flohen geduckt in das hintere Höhlenende, lautlos und flugs wie eine Schar flatternder Fledermäuse. Das Licht ging mit ihnen, denn die Klaue hatte, wie ich befürchtete, offenbar nicht für mich, sondern für sie geschienen.
    Ein dritter Schritt drang von tief unten herauf, und gleichzeitig erlosch der letzte Schimmer; aber in diesem Moment, diesem letzten Lichtschimmer, erblickte ich Terminus Est im tiefsten Wasser. Im Dunkeln bückte ich mich danach, steckte die Klaue in meinen Stiefelschaft und hob mein Schwert auf; dabei stellte ich fest, daß mein Arm nicht mehr gefühllos und offenbar wieder so kraftvoll wie vor dem Kampf war.
    Ein vierter Tritt hallte durch das Bergwerk, und ich ergriff die Flucht, wobei ich mich mit dem ausgestreckten Schwert vorantastete. Was für eine Kreatur wir da aus den Wurzeln des Kontinents gerufen haben, glaube ich nun zu wissen.
    Damals aber wußte ich’s nicht, wußte gleichfalls nicht, ob sie das Gebrülle der Menschenaffen, das Licht der Klaue oder etwas anderes geweckt hatte. Ich wußte nur, daß tief unter uns etwas war, wovor die Menschenaffen trotz ihrer schrecklichen Erscheinung und Vielzahl davonstoben wie Funken vor dem Wind.
     

 
VII
 
Die Meuchelmörder
     
    Wenn ich mir den zweiten Durchgang durch den zur Außenwelt führenden Stollen ins Gedächtnis zurückrufe, kommt es mir so vor, als habe er eine Wache oder länger beansprucht. Meine Nerven sind, von einem unbarmherzigen Gedächtnis geplagt, wohl nie die besten gewesen. Damals waren sie zum Zerreißen gespannt, so daß drei Schritte scheinbar eine Ewigkeit dauerten. Ich hatte natürlich Angst. Seit meiner Kindheit hat man mich nicht mehr einen Feigling genannt, und gelegentlich haben verschiedene Leute meinen Mut gelobt. Ich habe die Pflichten als Mitglied meiner Zunft erfüllt, ohne mit der Wimper zu zucken, habe mich sowohl persönlich als auch im Krieg dem Kampf gestellt, habe Gipfel erklommen und bin mehrmals um ein Haar ertrunken. Aber ich glaube, die sogenannten Mutigen und die zur Memme abgestempelten unterscheiden sich nur darin, daß die letzteren Angst vor der Gefahr, die ersteren Angst nach der Gefahr verspüren.
    Gewiß kann keinen in einer äußerst bedrohlichen Lage große Furcht packen, da er sich viel zusehr auf die eigentliche Sache konzentriert und das zur Begegnung oder Entkommen Erforderliche sein Denken mit Beschlag belegt. Der Feigling ist also ein Feigling, weil er seine Angst mitbringt; Leute, die wir für feige halten, belustigen uns zuweilen mit ihrer Verwegenheit, falls sie vorher nicht gewarnt sind, was ihnen drohe.
    Meister Gurloes, den ich als Knabe für einen Mann von unerschrockenem Mut hielt, war zweifellos ein Feigling. In der Zeit, in der Drotte unser Lehrlingswart war, hatten Roche und ich abwechselnd die Meister Gurloes und Palaemon zu bedienen; eines Nachts, als Meister Gurloes sich in seine Stube zurückgezogen, mich aber zum Bleiben und Nachschenken aufgefordert hatte, zog er mich ins Vertrauen.
    »Junge, kennst du die Klientin Ia? Tochter eines Waffenträgers und recht hübsch.«
    Als Lehrling hatte ich mit Klienten wenig zu tun; ich schüttelte den Kopf.
    »Sie ist zu mißbrauchen.«
    Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, also antwortete ich: »Ja, Meister.«
    »Das ist die größte Schande, die über eine Frau kommen kann. Oder über einen Mann. Mißbraucht zu werden. Durch einen Folterer.« Er deutete auf seine Brust, warf den

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