Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
genossen, für Menschen ausgeben.
    Ist es die Folge natürlicher Anlässe gewesen, schreibe ich es einer Verflechtung unglücklicher Umstände zu. Ich, der ich all mein Lebtag harte Arbeit und körperliche Betätigung gewohnt war, hatte einen ganzen Tag untätig im beengten Gefängnis sitzen müssen. Die Geschichte aus dem braunen Buch hatte meine Phantasie angeregt – die durch das Buch selbst und seine gefühlsmäßige Verknüpfung mit Thecla und das Wissen, nun innerhalb der Mauern des Hauses Absolut zu sein, von dem ich sie so oft hatte sprechen hören, noch viel stärker beflügelt wurde. Am bedeutsamsten waren vielleicht die niederschmetternde Sorge um Jonas und die Ahnung (die sich im Laufe des Tages in mir gefestigt hatte), daß an diesem Ort meine Reise ein Ende fände; daß ich nie nach Thrax gelangte; daß ich die arme Dorcas nicht wiedersähe; daß ich die Klaue nie zurückgeben, mich ihrer nicht einmal entledigen könnte; daß der Increatus, dem der Besitzer der Klaue gedient hatte, für mich, der ich so viele Gefangene hatte sterben sehen, vorsehe, mein Leben selbst als solcher zu beschließen.
    Ich schlief, wenn man es als Schlaf bezeichnen konnte, nur kurz. Ich hatte das Gefühl zu fallen; ein Krampf, das instinktive Zucken eines Opfers, der aus einem hohen Fenster gestürzt wird, verrenkte mir die Glieder. Als ich mich aufsetzte, konnte ich nichts als Dunkelheit sehen. Ich hörte Jonas atmen, und meine Finger sagten mir, daß er noch so saß, wie ich ihn zurückgelassen hatte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich legte mich nieder und schlief wieder.
    Oder versuchte vielmehr zu schlafen und fiel in jenen Dämmerzustand, in dem man weder schläft noch ganz wach ist. Bei anderen Gelegenheiten empfand ich diesen Halbschlaf als angenehm, nicht aber jetzt – ich war mir bewußt, daß ich den Schlaf brauchte, und ich war mir bewußt, daß ich nicht schlief. Dennoch war es kein »Bewußtsein« in der normalen Bedeutung dieses Wortes. Ich vernahm gedämpfte Stimmen im Hof des Gasthauses und hatte irgendwie das Gefühl, bald würden vom Campanile die Glocken schlagen und es wäre Tag. Wieder durchzuckte ein Krampf meine Glieder, und ich setzte mich auf.
    Im ersten Moment glaubte ich, ein grünes Feuer aufblitzen zu sehen, aber es war nichts da. Ich hatte mich mit meinem Mantel zugedeckt; als ich ihn zurückwarf, wurde ich gewahr, daß ich mich im Vorzimmer des Hauses Absolut befand und das Gasthaus zu Saltus weit hinter mir gelassen hatte, obgleich neben mir noch Jonas lag, auf dem Rücken schlafend, die heile Hand im Nacken. Der blasse Schimmer, den ich sah, stammte von seinem rechten Augenweiß, obschon sein Atem tief und ruhig wie bei einem Schlafenden ging. Ich war selbst zu schlaftrunken zum Sprechen und hatte die dumpfe Ahnung, daß er mir sowieso nicht antworten würde.
    Ich legte mich wieder hin und gab mich meinem Ärger hin, nicht schlafen zu können. Ich dachte an die Herde, die durch Saltus getrieben worden war, und zählte die Tiere aus dem Gedächtnis: hundertund-siebenundreißig. Dann fielen mir die Soldaten ein, die singend vom Gyoll heraufmarschiert waren. Der Wirt hatte mich gefragt, wie viele es seien, und ich hatte die Zahl geschätzt und zählte sie erst jetzt. Er hätte ein Spion sein können.
     
    Meister Palaemon, der uns so viel gelehrt hatte, hatte uns nie das Schlafen gelehrt – kein Lehrling hätte das lernen müssen nach einem Tag, den Botengängen, Putzarbeit und Küchendienst ausfüllten. Abends hatten wir uns in unserem Quartier eine halbe Wache lang ausgetobt und dann geschlafen wie die Bewohner der Nekropolis, bis er uns zum Bodenschrubben und Müllschleppen wieder weckte.
    Es hängt ein Gestell mit Messern über dem Tisch, wo Bruder Aybert das Fleisch schneidet. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Messer, alle mit einer einfacheren Klinge als die von Meister Gurloes. Bei einem fehlt ein Niet am Griff. Bei einem anderen ist der Griff leicht angekohlt, weil Bruder Aybert es einmal auf den Herd gelegt hat …
    Ich war wieder hellwach, oder glaubte das zumindest, und wußte nicht warum. Neben mir lag Drotte in tiefem Schlaf. Ich schloß wiederum die Augen und versuchte, einzuschlafen wie er.
    Dreihundertundneunzig Stufen sind es vom Erdgeschoß zu unserem Schlafsaal. Wie viele noch bis zur Kammer in der Turmspitze, wo die Kanonen stehen? Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Kanonen. Eins, zwei, drei bewohnte Zellengeschosse in unserer Oubliette. Eins, zwei,

Weitere Kostenlose Bücher