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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Flügel in jeder Etage. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn Zellen in jedem Flügel. Eins, zwei, drei Gitterstäbe am kleinen Fenster meiner Zellentür.
     
    Ich schreckte aus dem Schlaf, frierend, aber was mich gestört hatte, war nur das Zuschlagen einer der Luken weit hinten im Korridor gewesen. Neben mir lag mein halbwüchsiger Liebhaber, Severian, im unbeschwerten Schlaf der Jugend. Ich setzte mich auf und überlegte, ob ich die Kerze anzünden sollte, um ein wenig die frische Farbe dieses scharf geschnittenen Gesichtes zu betrachten. Jedesmal, wenn er zu mir kam, glühte ein Fünkchen Freiheit in diesem Gesicht. Jedesmal nahm ich es und hauchte es an und hielt es an meine Brust, und jedesmal verging es schmachtend und erlosch; manchmal indes nicht, und anstatt unter dieser Last von Erde und Metall tiefer zu sinken, stieg es durch Metall und Erde zum Wind und Himmel empor.
    Das redete ich mir jedenfalls ein. Es stimmte nicht, doch die einzige Freude, die mir geblieben, war, dieses Fünkchen zu umfangen.
    Aber als ich nach der Kerze tastete, fand ich sie nicht, und meine Augen, meine Ohren und sogar die Haut meines Gesichtes sagten mir, daß mit ihr die Zelle selbst verschwunden war. Ein schwacher Lichtschein umgab mich hier – sehr schwach, aber nicht das Licht von der Kerze des Folterers im Korridor, das Licht, das durch die drei Gitterstäbe zum Zellenfenster hereinfiel. Schwache Echos verkündeten mir, daß ich mich in einem Raum, der hundertmal größer als eine solche Zelle war, befand; meine Wangen und meine Stirn, von der Beengtheit der vier Wände abgestumpft, bestätigten es.
    Ich erhob mich und glättete mein Gewand und setzte mich in Bewegung, fast wie ein Schlafwandler … Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schritte, und der Geruch nach zusammengepferchten Menschen und die drückende Luft verrieten mir, wo ich war: im Vorzimmer! Ruckartig offenbarte sich mir die Ortsverschiebung. Hatte der Autarch mich hierher tragen lassen, während ich schlief? Würden sie anderen mich mit ihren Geißeln verschonen, wenn sie mich sähen?
    Die Tür! Die Tür!
    Meine Verwirrung war so groß, daß ich, vom Dickicht meiner Gedanken umfangen, beinahe gestürzt wäre.
    Verzweifelt rang ich die Hände, aber es waren nicht meine Hände, die ich rang. Meine Rechte fühlte sich viel zu groß und kräftig an, und gleichzeitig spürte meine Linke eine ähnliche Hand.
     
    Thecla fiel wie ein Traum von mir ab. Ich sollte vielleicht besser sagen, löste sich in nichts auf und verschwand dabei aus meinem Innern, bis ich wieder ich selbst war und fast allein.
    Dennoch war es mir nicht entgangen. Die Lage der Tür, der Geheimtür, durch die die jungen Beglückten bei Nacht mit ihren energiegeladenen Peitschen aus umflochtenem Draht eindrangen, hatte ich im Gedächtnis behalten. Und damit alles, was ich sah oder dachte. Ich könnte morgen fliehen. Oder schon jetzt.
    »Bitte«, sagte eine Stimme neben mir, »wo ist die Dame hin?«
    Es war wieder das Kind, das kleine Mädchen mit dem dunklen Haar und den großen Augen. Ich fragte es, ob es eine Frau gesehen habe.
    Es nahm mich mit der eigenen winzigen bei der Hand. »Ja, eine große Dame, und ich habe Angst. Etwas Schreckliches lauert in der Dunkelheit. Hat es sie gefunden?«
    »Du fürchtest dich doch nicht vor so etwas, weißt du noch? Über das grüne Gesicht hast du gelacht.«
    »Es ist anders, etwas Schwarzes, das im Dunkeln schleicht.« Das Entsetzen in ihrer Stimme war unverkennbar, und das Händchen, das mich hielt, zitterte.
    »Wie hat die Dame ausgesehen?«
    »Weiß ich nicht. Ich konnte sie nur sehen, weil sie dunkler als die Schatten war, aber daß es eine Dame war, erkannte ich an der Art ihres Gangs. Als ich ging und nachschaute, warst nur noch du da.«
    »Ich verstehe«, sagte ich, »obwohl du’s wohl nicht wirst. Nun geh zu deiner Mutter und leg dich schlafen.«
    »Es kommt an der Wand entlang«, erwiderte sie. Dann ließ sie meine Hand los und verschwand. Allerdings bin ich mir sicher, daß sie nicht gehorcht hat. Vielmehr muß sie Jonas und mir gefolgt sein, denn ich habe sie schon zweimal gesehen seit meiner Rückkehr zum Haus Absolut, wo sie zweifellos von gestohlenen Speisen lebt. (Es ist denkbar, daß sie zum Essen das Vorzimmer aufgesucht hat, ich habe jedoch veranlaßt, daß alle dort Eingesperrten freizulassen sind,

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