Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Praxis in Reinickendorf – als blutüberströmte Leiche, in eine Plastiktüte verpackt, wie sie zur Aufbewahrung von Autoreifen verwendet werden.
Vera Markov und ihr Vater sind höchst besorgt. Mittlerweile ist es Samstag, der 16. April, acht Uhr morgens.
Sascha Wassilow hat den Praxisschlüssel am Vorabend nicht bei Valerij Sobotkin in den Briefkasten geworfen, wie er es sonst immer macht. Er hat auch die Nacht nicht in seinem Zimmer bei Familie Markov verbracht, aber das allein würde Vera Markov nicht besonders beunruhigen. Schließlich hat ihr Vater ihr erzählt, dass sich Sascha gestern mit einem Mädchen treffen wollte. Wahrscheinlich haben sie irgendwo zusammen übernachtet, sagte sich Vera Markov zunächst.
Doch als sie bei der Praxis eintreffen, fanden sie sämtliche Fenster weit geöffnet. Der rote Renault Clio, das Firmenfahrzeug, steht nicht an seinem gewohnten Platz. Allem Anschein nach ist während der Nacht in die Praxis eingebrochen worden!
Mit Vera Markovs Schlüssel betreten sie die Praxis und schauen in alle Räume. Valerij Sobotkin fällt sofort auf, dass der Boden im Behandlungsraum Nummer 6 und in dem kleinen Flur vor dem Badezimmer gereinigt worden ist. An einigen Stellen ist er sogar noch feucht.
»Was ist hier passiert?«, ruft Vera Markov aus. »Wir müssen uns das Überwachungsvideo ansehen.«
Sie eilen in das Kellerbüro hinunter. Dort befinden sich der kleine Monitor und der Recorder, die zu dem Sicherheitssystem gehören. Fassungslos starren sie auf die Bilder, die die Überwachungskamera im Empfangsbereich der Praxis letzte Nacht aufgezeichnet hat. Die Bildqualität ist bescheiden, aber den jungen Mann, der auf sämtlichen Sequenzen zu sehen ist, erkennen sie sofort.
Es ist Sascha Wassilow.
Die Kamera deckt den gesamten Eingangsbereich der Praxis ab. Sie ist mit Bewegungssensoren ausgestattet, weshalb das Video erhebliche Zeitsprünge aufweist.
In der Bildmitte ist der Empfangstresen zu sehen, im Vordergrund die Haupteingangstür, am linken Bildrand der Durchgang zu den Behandlungsräumen und dem kleinen Flur mit Küche und Bad. Am rechten Bildrand wird auch der Durchgang zum Behandlungsraum Nummer 1 erfasst, hinter dem sich das kleine Treppenhaus und der Seiteneingang befinden.
Laut Zeitstempel am unteren Bildrand ist es 22:17 Uhr, als Sascha mit einer jungen Frau durch die Haupteingangstür die Praxis betritt.
Gegen 23:30 Uhr ist auch die junge Frau noch einmal kurz im großen Flur zu sehen – Dunjas letzter Auftritt im Video.
Um 02:45 Uhr erscheint Sascha allein am Empfangstresen. Er durchsucht Fächer und Schubladen und findet schließlich den Schlüssel zum Wandtresor. Seine Bewegungen wirken kontrolliert, auch sein Gesicht lässt keine besondere Aufregung erkennen. Er öffnet den Tresor und nimmt die Schlüssel heraus, die zum Firmenfahrzeug gehören. Dann folgt ein weiterer Zeitsprung.
Um 04:27 Uhr verlässt Sascha die Räumlichkeiten durch den Seiteneingang, wobei er eine offenbar recht schwere Plastiktüte hinter sich herzieht. Valerij Sobotkin erkennt sie auf den ersten Blick wieder: Es ist eine der großen und stabilen Tüten, in denen, je nach Jahreszeit, die Winter- oder Sommerreifen des Firmenfahrzeugs in einem Lagerraum im Keller eingelagert werden.
Was genau die Plastiktüte enthält, können Vera Markov und Valerij Sobotkin nicht erkennen – die Bildqualität ist zu dürftig. Aber um einen Autoreifen handelt es sich zweifellos nicht. Sascha hat einige Mühe, das unförmige Bündel hinter sich herzuziehen.
Vera Markov und ihr Vater wechseln einen Blick. Beide haben ein mehr als mulmiges Gefühl.
»Ruf ihn an«, sagt Valerij Sobotkin.
Seine Tochter nickt und zieht ihr Handy hervor.
Eine halbe Stunde lang versucht Vera Markov immer wieder, Sascha Wassilow ans Telefon zu bekommen. Als sie schon aufgeben will, nimmt er den Anruf endlich entgegen.
»Wo bist du, Sascha?«, bricht es aus Frau Markov heraus. »Ich bin in der Praxis. Was ist letzte Nacht hier passiert?«
Sascha zögert einen Moment lang. »Ich habe etwas sehr Schlimmes gemacht«, antwortet er dann. »Ich komme zur Praxis.« Ehe Vera Markov noch etwas sagen kann, legt er auf.
Sascha hat vollkommen gefasst geklungen. Aber das beunruhigt sie nur noch mehr. Schließlich hat er auch auf dem Video ganz gelassen gewirkt, obwohl er allem Anschein nach die in Plastik verpackte Leiche der jungen Frau, mit der er am Abend hierhergekommen ist, zur Seitentür geschleppt hat. Wer oder was
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