Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Eingang zum U-Bahnhof Alexanderplatz zugesteuert sind.
In einem Supermarkt unweit der S-Bahn-Station Alt-Reinickendorf kaufen Sascha und Dunja gegen 22 Uhr eine Flasche Bacardi-Rum, zwei Flaschen Cola und Chips. Die später von der Kripo ausgewerteten Videos der Überwachungskameras zeigen, wie Dunja vor dem Spirituosenregal herumalbert. Sascha sieht ihr dabei zu und wirkt für seine Verhältnisse geradezu gelöst.
Um 22:15 Uhr kommen sie bei der physiotherapeutischen Praxis in Alt-Reinickendorf an. Sascha schließt die Haupteingangstür auf, schaltet Licht ein und winkt Dunja, ihm zu folgen.
Er stellt die Tüte mit ihren Einkäufen auf dem Empfangstresen ab. Dann veranstaltet er für Dunja eine Führung durch die Praxis. Es ist eher schon ein Behandlungszentrum, das sich über das gesamte Erdgeschoss eines modernen Rundbaus mit bodentiefen Fenstern im Eingangsbereich erstreckt. Vom zentralen Empfangstresen gehen Türen nach allen Richtungen ab. Es gibt insgesamt sechs Behandlungsräume und den großen Fitnessraum, in dem sich Sascha so häufig aufhält. In den verschiedenen Räumen werden medizinische Massagen durchgeführt und Fangopackungen verabreicht. Nikolaj Markov und vier angestellte Physiotherapeuten bieten auch Bewegungstherapien und Gymnastikkurse an.
Neben dem Behandlungsraum Nummer 6 führt ein kleiner Flur zu Küche, Bad und einer Gerätekammer. Vom gegenüber gelegenen Behandlungsraum Nummer 1 geht außerdem eine Tür zu einem kleinen Treppenhaus ab, über das man ins Kellerbüro der Praxis und einige Lagerräume gelangt. Dort gibt es auch einen Seiteneingang, vor dem das zur Praxis gehörende Firmenfahrzeug parkt. Die Therapeuten verwenden den Kleinwagen vom Typ Renault Clio für Hausbesuche bei gehbehinderten oder bettlägerigen Patienten.
Dunja zeigt sich beeindruckt. Die Praxis ist offenbar viel größer, als sie erwartet hat.
Sascha führt sie schließlich in den Behandlungsraum Nummer 6 neben dem Fitnessraum. Dort gibt es eine Doppelliege und ein kleines Radio. Dunja macht es sich bequem. Sascha holt ihre Einkäufe vom Empfangstresen und zwei Gläser aus einem Schrank. Sie mixen sich Cuba libre und essen Chips. Sie hören Musik und tanzen, unterhalten sich und genehmigen sich weitere Drinks.
Darüber hinaus geschieht in den drei Stunden zwischen halb elf Uhr abends und halb zwei Uhr nachts nichts Berichtenswertes – jedenfalls laut Sascha Wassilow.
Zwei Tage später, mittlerweile in Untersuchungshaft in der JVA Berlin-Moabit, wird er Folgendes aussagen: Dunja und er hätten nur »ein wenig« getanzt. Die Musik im Radio habe ihr nicht gefallen. Daher hätten sie sich bald schon auf die Doppelliege gesetzt, mit Dunjas MP3-Player Musik über Kopfhörer gehört und sich stundenlang unterhalten. Angeblich ging es wieder um Dunjas Verhältnis zu ihrem Vater, der die Familie verlassen hatte.
»Wir waren beide betrunken«, gibt Sascha zu Protokoll. »Wir hatten zusammen die halbe Flasche Rum geleert, und ich vertrage nicht viel Alkohol. Außerdem sind wir ein paarmal zum Seiteneingang gegangen und haben Zigarillos geraucht. Nach dem zweiten Zigarillo wurde mir schon schwummrig. Als ich irgendwann später noch einen dritten geraucht habe, war es plötzlich, als würde vor mir ein Vorhang runterfallen.«
Um halb zwei Uhr nachts klingelt Dunjas Handy. Tante Maria will wissen, wo ihre Nichte bleibt. Sie klingt besorgt.
Dunja steht von der Liege auf und geht in den kleinen Flur hinaus, um die Tante zu beruhigen. »Ich bin in Reinickendorf, es ist alles okay«, sagt sie.
»Es ist halb zwei, Mädchen!«, antwortet die Tante. »Du musst jetzt nach Hause kommen, verstanden? Und nimm dir ein Taxi – mit der S-Bahn ist es um diese Zeit zu gefährlich.«
Dunja verspricht ihr, dass sie gleich aufbrechen wird. Sie beenden das Gespräch, aber noch bevor sie in den Behandlungsraum Nummer 6 zurückgekehrt ist, klingelt ihr Handy aufs Neue.
»Wo bist du da eigentlich, Dunja?«, will ihre Tante diesmal wissen. »Ich dachte, du wärst in irgendwelchen Discos oder Clubs unterwegs. Warum ist um dich herum kein Laut zu hören?«
Dunja gibt ein leises Lachen von sich. Sie hört sich ein wenig betrunken an. »Mir geht es gut, Tante Maria«, sagt sie. »Ich rufe mir jetzt ein Taxi.«
Doch das Taxi wird nicht gerufen werden, und Dunja Kritovna wird niemals bei ihrer Tante Maria in Berlin-Friedrichshain eintreffen. Erst um kurz vor halb fünf am nächsten Morgen verlässt sie die physiotherapeutische
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