Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
für den Verurteilten« durch eine Erkrankung oder wenn der körperliche Zustand des Verurteilten eine Unterbringung in einer Strafvollzugsanstalt nicht zulässt. Um letzteren Punkt geht es im Fall von Herta Sommer.
Frau Sommer wird von meiner Kollegin Dr. Karen Soltau federführend begutachtet. Sie erklärt sich mit einer körperlichen Untersuchung und deren Dokumentation einverstanden. Überdies legt sie Dr. Soltau eine umfangreiche eigene Krankenakte vor.
Sie leide unter ständigen starken Schmerzen in Armen und Beinen, im Rücken und in den Schulterblättern, erklärt sie. Wegen Nervenschmerzen in den Beinen könne sie seit zwei Jahren nicht mehr laufen und sei vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. Mit dem Rollstuhl könne sie sich in ihrer Wohnung frei bewegen. Jedoch könne sie das Haus nicht ohne fremde Hilfe verlassen, da von der Haustür eine Treppe zur Straße hinabführe. Überdies reiche ihre Kraft nur für zwei Stunden in sitzender Position aus. Dann müsse sie vom Rollstuhl auf ihre Couch wechseln und sich dort im Liegen ausruhen.
Während Frau Sommer ihre eingeschränkten Lebensumstände schildert, wirkt sie niedergedrückt und den Tränen nahe.
Ohne die Hilfe ihres Schwagers könne sie seit Jahren nicht mehr leben, erklärt sie. Er kaufe für sie ein und bringe sie zu den Ärzten, die sie aufgrund ihrer zahlreichen Beschwerden häufig aufsuchen müsse. Von der Krankenkasse sei sie in Pflegestufe 1 eingestuft worden. Zweimal täglich werde sie von einer Pflegekraft besucht, die ihr den Haushalt besorge und sie vollständig wasche, denn auch dazu sei sie nicht mehr selbständig in der Lage.
Überdies leide sie an Taubheitsgefühlen im Unterleib, sei daher seit Jahren inkontinent und müsse Windeln tragen. Die ständigen Schmerzen und ihre Inkontinenz empfinde sie als seelisch extrem belastend. Sie nennt eine ganze Liste starker Schmerzmedikamente, die sie nach eigenen Angaben täglich einnimmt.
Dr. Soltau bittet sie, sich für die Untersuchung zu entkleiden. Frau Sommer erklärt, dass sie sich ohne fremde Hilfe ihrer Kleidung nicht entledigen könnte. Wiederum fällt Dr. Soltau auf, wie unbeholfen die ältere Frau ihren Rollstuhl bedient. Sie versäumt es, die Feststellbremse zu betätigen, so dass der Wagen während des Aus- und Ankleidens unkontrolliert hin und her rollt.
Frau Sommer trägt Baumwollhandschuhe und erklärt zur Begründung, dass sie infolge der Handhabung des Rollstuhls an Ekzemen an beiden Händen leide. Dr. Soltau fordert sie auf, die Handschuhe auszuziehen – die Haut an beiden Händen ist vollkommen intakt. Auch die weitere Untersuchung ergibt, abgesehen von leichtem Übergewicht, keine auffälligen Befunde. Frau Sommers Beine, die sie nach eigenen Angaben seit zwei Jahren nicht mehr tragen können, weisen keine Wassereinlagerungen auf. Die Muskulatur ist normal entwickelt und nicht etwa verkümmert, wie man es nach längerer Immobilität erwarten würde.
Nachdem Frau Sommer wieder angekleidet ist und auch ihre Baumwollhandschuhe wieder angelegt hat, bewegt sie ihren Rollstuhl ins Wartezimmer zurück, wo ihr Schwager sie erwartet. Erneut fällt Dr. Soltau auf, wie ungeschickt die seit Jahren Gelähmte ihr Gefährt steuert.
Nachdenklich vertieft sich die Gutachterin in die Krankenakte. Neben den Unterlagen, die Frau Sommer mitgebracht hat, liegen ihr Arztbriefe und Gutachten von zahlreichen Kliniken und Fachärzten aus den letzten Jahren vor. Darüber hinaus hat Dr. Soltau mit Einverständnis von Frau Sommer weitere Befunde von Ärzten und Krankenhäusern eingeholt, die die ältere Dame behandelt haben.
Bei der kritischen Überprüfung der Unterlagen fallen Dr. Soltau etliche Ungereimtheiten auf. So heißt es in einem Arztbrief, die Patientin sei wegen einer schlaffen Lähmung der Arme und Beine seit vier Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Aus einem kurz davor erstellten Klinikgutachten geht jedoch hervor, dass Frau Sommer noch vor einem Jahr mit dem Gehwagen mobil gewesen sei. Dr. Soltau gegenüber hat sie dagegen angegeben, dass sie sich seit zwei Jahren nur noch mit dem Rollstuhl bewegen könne.
Ähnlich beklagte sie gegenüber einem Arzt bereits vor vier Jahren, dass sie inkontinent sei. Bei einem wenige Monate zurückliegenden Arztgespräch erklärte sie jedoch, sie sei erst seit einem Jahr inkontinent.
Nachdem Dr. Soltau einige Stunden lang die Krankenakte durchgearbeitet hat, verlässt sie ihr Büro, um sich einen Kaffee zu holen. Dabei begegnet
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