Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Für die spätere strafrechtliche Bewertung ist unsere rechtsmedizinische Beurteilung von Verletzungen also hochrelevant.
Als der Dolmetscher und Dr. Schubert eingetroffen sind, beginnt Binh Minh ihre Aussage. Auch den beiden kommt sie ungewöhnlich gefasst, ja beinahe teilnahmslos vor. Dabei hat sie nach ihren eigenen Angaben ein wahres Martyrium hinter sich.
Am vergangenen Freitag, also vor bereits sechs Tagen, sei sie mittags aus dem Krankenhaus zurückgekommen, wo sie ihren neugeborenen Sohn besucht habe. Der Junge sei ein paar Wochen zu früh auf die Welt gekommen und werde deshalb in der Neugeborenenstation aufgepäppelt, bevor er nach Hause entlassen werden könne. Jedenfalls habe sie gerade den Hausflur ihres Wohnhauses betreten, als ihr zwei Männer aufgefallen seien.
»Sie standen bei der Eingangstür herum«, erklärt Binh Minh, »und als ich zum Briefkasten ging, um nach der Post zu sehen, folgten sie mir. ›Geld her!‹, fuhr mich der eine Mann an. Der andere griff nach meiner Handtasche.«
Sie habe die Männer beschimpft und um Hilfe geschrien. Darauf habe der eine ihr den Mund zugehalten, und der andere habe sie hochgehoben. Sie habe gezappelt und sich gewehrt, aber die beiden Männer seien viel zu stark für sie gewesen.
»Sie trugen mich in den Keller hinunter«, berichtet Binh Minh, die nur etwa fünfzig Kilogramm wiegt. »Ich wehrte mich nach Leibeskräften, und dabei wurde mein T-Shirt zerfetzt. Sie schleppten mich bis zu dem abgelegenen Kellerraum und schlossen hinter sich die Tür. Der eine Mann durchsuchte meine Tasche und nahm mein ganzes Geld heraus – 290 Euro. Dann verlor ich das Bewusstsein, und als ich wieder zu mir kam …«
»Langsam«, unterbricht sie Kriminaloberkommissar Halter. »Sie verloren das Bewusstsein? Aus welchem Grund?«
Der Dolmetscher übersetzt seine Frage.
»Ich weiß nicht«, antwortet Binh Minh und schaut einen Moment lang ratlos vor sich hin. »Ich glaube«, fährt sie fort, »dass sie mir ein Tuch mit einem Betäubungsmittel vor Mund und Nase gehalten haben.«
Kriminalkommissarin Gütlich wirft ihrem Kollegen einen Blick zu. »Sie glauben das?«, hakt sie nach. »Oder erinnern Sie sich daran?«
Binh Minh zuckt mit den Schultern.
Sie habe das Bewusstsein verloren, wiederholt sie. Als sie wieder zu sich gekommen sei, sei sie an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Offenbar hätten die Männer ihr den BH ausgezogen, während sie ohnmächtig war, und ihr damit die Füße zusammengebunden. Die Hände hätten sie ihr auf dem Rücken verschnürt.
Ob die Männer sie vergewaltigt hätten, fragt die Kriminalkommissarin.
Wieder hebt Binh Minh die Schultern. »Ich weiß nicht«, übersetzt der Dolmetscher ihre Worte.
Die Männer seien nicht zurückgekehrt, erzählt sie weiter. Sie habe geschrien und gerufen, aber niemand sei ihr zu Hilfe gekommen. Sie sei im Dunkeln im Keller herumgekrochen und habe versucht, die Stufen hochzurobben. Doch mit ihren auf dem Rücken verschnürten Händen habe sie das nicht geschafft. Stattdessen habe sie beim Herumkriechen auch noch ihre Schuhe verloren, die ihr ein wenig zu groß seien.
»Und Sie waren sechs Tage da unten gefangen?«, vergewissert sich Oberkommissar Halter.
Binh Minh nickt. »Ich hatte nichts zu essen«, berichtet sie weiter, »und auch nichts zu trinken. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinen eigenen Urin zu trinken. Ich habe immer wieder geschrien, aber erst heute Morgen ist endlich jemand in den Keller heruntergekommen und hat mich gehört.«
Dr. Susanne Schubert ist eine erfahrene Rechtsmedizinerin. Wie sie mir später berichtete, kam ihr die Geschichte, die Binh Minh erzählt hatte, gleich etwas seltsam vor. Und ihre Bedenken werden nicht geringer, während sie die junge Frau untersucht.
Am Hinterkopf der Vietnamesin findet sie einen etwa zehn Zentimeter langen, frisch verschorften Hautstreifen, auf dem das Haupthaar teilweise gänzlich fehlt und teilweise nur eine Länge von 1,2 Zentimetern misst. Das restliche Kopfhaar der jungen Frau ist dagegen rund dreißig Zentimeter lang. Diese Verletzung ist offenkundig nicht vor sechs Tagen entstanden und lässt Dr. Schubert sofort an eine Selbstbeibringung denken. Es kommt keineswegs selten vor, dass sich Frauen Haarbüschel ausreißen, um sich durch Schmerz und Verunstaltung zu bestrafen oder zu versuchen, auf diese Weise seelische Spannungen abzubauen.
Zu diesem Befund passen mehrere zirka drei Zentimeter lange Narben, die Dr. Schubert kurz
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