Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Gängen bewegen, werden die dumpfen Rufe, die zu ihnen dringen, immer lauter.
Das Abteil, das ihrer Wohnung zugeordnet ist, befindet sich in einem besonders abgelegenen Teil des Kellers. Wilhelm Mauser öffnet die Tür und schaltet das Licht ein. Eine Treppe führt weitere Stufen hinunter. Der Raum enthält zahlreiche einfache Bretterverschläge, die mit Vorhängeschlössern versperrt sind. In dem Gang zwischen den Verschlägen liegt eine schmale Gestalt. Zögernd tasten sich die Mausers die Stufen hinunter. Als die Gestalt am Boden erneut unartikulierte Laute von sich gibt, bleibt Gerda Mauser »fast das Herz stehen«, wie sie später aussagen wird.
Doch dann erkennen sie, wen sie vor sich haben: Binh Minh, eine Vietnamesin aus dem dritten Stock. Sie ist an Händen und Füßen gefesselt. Ihre Kleidung ist zerrissen und ebenso wie ihr Gesicht mit Schmutz verschmiert. Die Mausers beeilen sich, die bedauernswerte Frau von ihren Fesseln zu befreien. Ihre Hände sind mit einem Seil auf dem Rücken zusammengeschnürt. Die Füße sind mit ihrem eigenen Büstenhalter gefesselt. Allem Anschein nach ist die Ärmste einem Sextäter zum Opfer gefallen.
»Um Himmels willen«, sagt Gerda Mauser, »wer hat Ihnen das angetan?«
Binh Minh antwortet, aber das Ehepaar versteht kein Wort. Die junge Frau spricht nur wenige Brocken Deutsch. Sie ist Anfang dreißig und Mutter von vier Kindern. Ihren jüngsten Sohn hat die zierliche Frau gerade erst vor ein paar Wochen zur Welt gebracht.
Wilhelm Mauser hilft ihr, sich vom Boden aufzurappeln. Binh Minh kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Ihre Hände fühlen sich kalt an. Fürsorglich hängt ihr Gerda Mauser ihren Mantel um die Schultern. Die junge Frau ist offenbar unterkühlt. Außerdem ist ihr T-Shirt großflächig zerfetzt, ihre Brüste sind entblößt.
Gerda Mauser wundert sich, dass Binh weder erleichtert noch verstört wirkt. Die Vietnamesin weint nicht, versucht nichts zu erklären und fragt nicht nach ihren Kindern oder ihrem Mann. Apathisch lässt sie sich von dem alten Ehepaar ans Tageslicht zurückbringen. Mit Leggins und T-Shirt ist sie für die Jahreszeit viel zu dünn bekleidet. An den Füßen trägt sie nur Strümpfe. Wo ihre Schuhe abgeblieben sind, können die Mausers nicht aus ihr herausbringen.
»Die Ärmste steht unter Schock«, sagt Gerda Mauser zu ihrem Mann. Der zieht sein Handy aus der Tasche und wählt den Notruf.
Im Krankenhaus wird Binh Minh medizinisch erstversorgt. Da ihre Körpertemperatur lediglich 35,7 Grad Celsius beträgt, erhält sie angewärmte Infusionen. Gleichzeitig verständigen die Verantwortlichen der Klinik die Kriminalpolizei. Allem Anschein nach ist die junge Frau Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.
Mit den Ermittlungen werden Kriminaloberkommissar Franz Halter und Kriminalkommissarin Ina Gütlich beauftragt. Sie treffen um 9:30 Uhr im Krankenhaus ein, müssen dort aber erst noch auf den Dolmetscher warten. Mit ihren dürftigen Deutschkenntnissen kann sich die Vietnamesin nicht verständlich machen.
Nach einem Blick auf Binh Minh ruft Oberkommissar Halter bei uns im Institut an. Er bittet um eine rechtsmedizinische Untersuchung der Geschädigten, wie das in Fällen üblich ist, bei denen von einer schweren Straftat ausgegangen wird und Personen zu Schaden gekommen sind. Meine Kollegin Dr. Susanne Schubert macht sich gleich auf den Weg.
Der Bereich unserer Arbeit, der die Untersuchung Lebender umfasst, wird als Klinische Rechtsmedizin bezeichnet – in klarer Abgrenzung zu unserer Tätigkeit an den Toten. In der Klinischen Rechtsmedizin werden überwiegend Opfer von Gewalt, aber auch Tatverdächtige untersucht – zum Beispiel, um die Frage zu klären, ob diese selbst Verletzungen davongetragen haben und ihr Handeln vielleicht zu Recht als Notwehr bezeichnen. Im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchung werden die Verletzungen dokumentiert und hinsichtlich der Art der Gewalteinwirkung und des Zeitpunkts ihrer Entstehung interpretiert. So kann es zum Beispiel für den Ausgang des späteren Gerichtsverfahrens ganz entscheidend sein, wie alt Verletzungen sind, ob sie also vom Wundalter her zu einem möglichen Tatzeitpunkt passen. Nicht nur die Frage, ob Verletzungen lebensgefährlich für das Opfer waren, beeinflusst in der Regel das Strafmaß. Ebenso bedeutsam ist die Frage, ob es sich um »einzeitige«, nur zu einem einzigen Zeitpunkt entstandene Misshandlungsfolgen oder um »mehrzeitige« Gewalteinwirkung handelt.
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