Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
in dem Binh Minh angeblich gefangen gehalten wurde, am vergangenen Sonntag eine Glühbirne ausgetauscht habe. Er habe jedoch nichts Auffälliges bemerkt – schon gar nicht eine Frau, die gefesselt auf dem Boden lag und Hilfeschreie von sich gab.
»Da war niemand«, erklärt der Nachbar entschieden. »Und die Kellerabteile waren alle versperrt.«
Zur gleichen Zeit klingelt Oberkommissar Halter an der Wohnungstür von Familie Minh. Phong Minh, der Ehemann, öffnet und zeigt sich erstaunt, als ihm Halter seinen Ausweis zeigt. Der Vietnamese lebt bereits seit über zwanzig Jahren in Berlin und kann sich problemlos mit den Beamten verständigen – im Gegensatz zu seiner Frau, die erst vor wenigen Jahren nach Deutschland übersiedelt ist.
»Kriminalpolizei?«, fragt Phong Minh. »Was wollen Sie denn von mir?«
Oberkommissar Halter hat Mühe, sein Befremden zu verbergen. Ob er seine Frau nicht vermisse, fragt er den Ehemann.
Doch Phong Minh winkt nur müde ab. Hinter ihm schreien mehrere Kinder wild herum. »Sie sehen ja selbst, wie es hier zugeht«, sagt er und zeigt in die Wohnung hinter sich. Überall liegen gebrauchte Wäsche, leere Fastfood-Kartons und Spielzeug für Kinder verschiedener Altersklassen verstreut. »Und da fragen Sie ernsthaft, ob ich meine Frau vermisse?«
»Aber Sie haben sie nicht vermisst gemeldet «, präzisiert Halter. »Warum nicht?«
Phong Minh schüttelt resigniert den Kopf. Er ist um einiges älter als seine Frau und mit der Situation sichtbar überfordert. »Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie plötzlich verschwunden ist«, erklärt er. »Nach ein paar Tagen ist sie bisher jedes Mal zurückgekommen.«
»Und wohin verschwindet sie dann immer?«, will der Kommissar wissen.
Der Ehemann zuckt mit den Schultern. Falls er weiß oder zumindest ahnt, was seine Frau während ihrer »Auszeiten« so treibt, will er jedenfalls nicht darüber reden.
Vielleicht ist sie eine Quartalssäuferin, sagt sich Halter. Vielleicht taucht sie einfach in gewissen Abständen bei einer Freundin unter, weil sie ihre heimische Situation nicht mehr erträgt. Vielleicht hat sie auch ein Verhältnis mit wem auch immer. Aber solange der Ehemann keine Vermisstenanzeige erstattet, geht die Polizei das alles nichts an. Außer wenn die Frau eine an ihr begangene Straftat vortäuscht, um sich ein Alibi für ihr Verschwinden zu verschaffen. Und für die abhandengekommenen 290 Euro.
Zurzeit sei er arbeitslos, erklärt Phong Minh dem Kriminalkommissar. Aber mit den vier Kindern komme er allein nicht zurecht. »Die Polizei kann mir da auch nicht helfen«, fährt er fort. »Ich habe schon überlegt, ob das Jugendamt mir nicht vorübergehend jemanden zur Unterstützung schicken kann.«
Halter wirft noch einen Blick in die verwahrloste Wohnung. »Darum werden wir uns kümmern«, versichert er Herrn Minh.
Noch am selben Tag nimmt das Jugendamt alle vier in der elterlichen Wohnung lebenden Kinder des Ehepaars Minh in Obhut.
Die beiden Kriminalkommissare fahren noch einmal ins Krankenhaus, um Binh Minh mit den Ermittlungsergebnissen zu konfrontieren. Auch die Laboranalyse der Blutprobe von Binh Minh liegt mittlerweile vor.
»Die oberflächlichen Verletzungen am Rücken und an den Armen haben Sie sich selbst zugefügt«, beginnt Kommissarin Gütlich und legt Binh Minh die entsprechenden Fotos vor. »Die Kratzer verlaufen parallel und befinden sich ausschließlich an Stellen, die Sie als Rechtshänderin bequem erreichen können. Außerdem passen sie nicht zu den defekten Stellen an Ihrem T-Shirt.«
Sie wartet, bis der Dolmetscher übersetzt hat. Binh Minh lässt sich nicht anmerken, was sie von diesen Anschuldigungen hält.
Wenn ihre Hände sechs Tage lang hinter dem Rücken gefesselt gewesen wären, führt nun Halter aus, müsste sie an den Handgelenken schwerwiegende Fesselungsspuren aufweisen. Stattdessen seien bei der Untersuchung aber nur geringfügige Druckspuren ohne Abschürfungen und Hauteinblutungen festgestellt worden. »Deshalb steht für uns fest«, sagt der Oberkommissar, »dass Sie das alles selbst inszeniert haben. Es gab keinen Überfall, und Sie wurden auch nicht gefangen gehalten. Sie haben das erfunden, weil Sie wieder einmal für mehrere Tage verschwunden waren und wussten, dass Ihr Mann Sie deswegen zur Rede stellen würde.«
Binh Minh unternimmt noch einen Versuch, ihr Lügengebäude zu retten. Alles, was sie gesagt habe, sei die reine Wahrheit, beteuert sie. Während ihrer Gefangenschaft habe
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