Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
darauf am Hals der Frau bemerkt. Sie verlaufen parallel und sind offenbar schon älter.
»Haben Sie das selbst gemacht?«, fragt die Rechtsmedizinerin.
Binh Minh bejaht diese Frage.
Die etwa 1,5 Zentimeter lange Kratzspur an ihrer rechten Schläfe ist dagegen weder so frisch wie die Verschorfung am Hinterkopf noch so alt wie die Narben am Hals, sondern höchstens vor ein paar Tagen entstanden. Aber abgesehen von einer leichten Rötung an den Handgelenken, wo sie mit dem Strick gefesselt war, weisen die sichtbaren Körperregionen von Binh Minh keine weiteren Verletzungen jüngeren Datums auf.
Die Rechtsmedizinerin bittet die junge Frau, T-Shirt und Leggins abzulegen. Mittlerweile ist auch eine gynäkologische Fachärztin aus der Klinik anwesend, außerdem eine Polizeifotografin, die die lädierten Körperregionen ablichtet.
Am Rücken und auf den Oberarmen weist Binh Minh kratzerartige Hautdefekte auf, die parallel verlaufen, maximal 3,5 Zentimeter lang sind und frisch verschorft sind. Auch diese oberflächlichen Verletzungen hat sich die Frau offenbar selbst beigebracht – ob in Täuschungsabsicht oder aufgrund von autoaggressiven Impulsen, bleibt zunächst unklar. Abgesehen von einem rundlichen, 0,8 Zentimeter durchmessenden Hämatom an der Innenseite des linken Oberschenkels entdeckt Dr. Schubert jedenfalls keine Spuren, die durch fremde Gewalteinwirkung verursacht sein könnten.
Auch die Frauenärztin kann bei der anschließenden gynäkologischen Untersuchung keinerlei Auffälligkeiten feststellen. Binh Minh wurde offensichtlich nicht vergewaltigt. Seltsamerweise sind ihre Leggins im Schritt und an den Oberschenkeln zerrissen. Der Slip darunter ist jedoch intakt. Es finden sich auch keine Anzeichen für eine Verunreinigung mit Urin und Exkrementen, wie sie bei mehrtägiger Fesselung unvermeidlich wären. Angeblich waren ihre Hände ja auf dem Rücken zusammengeschnürt.
Schließlich nimmt Dr. Schubert Binh Minh noch Blut für die Laboruntersuchung ab. Wenn die Vietnamesin tatsächlich mehrere Tage ohne Nahrung und Flüssigkeit zugebracht hat, muss sich das in ihren Blutwerten niederschlagen. Dann müsste die Laboruntersuchung unter anderem eine Elektrolytstörung ergeben, die für verminderte Flüssigkeitszufuhr über einen längeren Zeitraum typisch ist.
Noch während die beiden Medizinerinnen das vermeintliche Verbrechensopfer untersuchen, erhält Kriminaloberkommissar Halter einen Anruf von einem seiner Ermittler. Die Kollegen haben den Tatort in Kreuzberg untersucht und einige bemerkenswerte Entdeckungen gemacht.
Das Kellerabteil, das zur Wohnung der vietnamesischen Familie gehört, befindet sich ausgerechnet in dem Raum, in dem Binh Minh angeblich sechs Tage lang im Gang gelegen hat. Der Verschlag war geöffnet, das Vorhängeschloss ist jedoch nicht beschädigt. Im Innern des Verschlags stießen die Ermittler auf Kleidungsstücke, die offensichtlich einer Frau mit zierlicher Statur gehören: eine Jacke, einen Pullover und eine Cordhose. Außerdem stellten sie eine Handtasche sicher, die unter anderem Binh Minhs Personalausweis enthält.
»Auf dem Boden des Verschlags«, berichtet der Ermittler weiter, »fanden wir noch eine ungeöffnete Flasche Cola und eine angetrocknete Portion Döner.«
»Und was ist mit Urinflecken auf dem Boden?«, fragt Halter. »Oder Uringeruch? Ist euch da was aufgefallen?«
»Fehlanzeige«, antwortet der Polizeibeamte.
Halter informiert Kommissarin Gütlich über die Ermittlungsergebnisse.
»Cola und Döner?«, wiederholt sie. »Warum hat die Frau das unbeachtet stehengelassen, obwohl sie angeblich halb verdurstet und verhungert ist?«
»Stattdessen will sie ja ihren eigenen Urin getrunken haben«, antwortet Halter. »Seltsam nur, dass in dem Keller weder Uringeruch noch Urinflecken wahrzunehmen sind. Wie es möglich sein soll, durch seine Beinkleider hindurch Urin zu trinken, weiß ich auch nicht – da müsste die gute Frau schon eine ziemliche Akrobatin sein.«
Eigentlich gibt es nur eine vernünftige Erklärung, sagen sich die Kriminalbeamten. Binh Minh muss über eine blühende Fantasie verfügen. An unbekannte Täter glauben die beiden mittlerweile nicht mehr.
Halter und Gütlich fahren zu dem Mehrfamilienhaus, um sich selbst ein Bild von den Gegebenheiten zu machen. Unterdessen haben die Ermittler vor Ort einen Nachbarn ausfindig gemacht, der am letzten Wochenende im Keller war. Die Kommissarin befragt ihn, und er erklärt, dass er genau in dem Raum,
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