Die Kleinbürger (German Edition)
Stiftung für Dienstboten gemacht hat, die ihrer Herrschaft treu gedient haben.«
»Gewiß,« antwortete la Peyrade, »Herr von Montyon hat den Tugendpreis gestiftet, der in der Tat häufig an treue Dienstboten von exemplarischem Ruf verliehen wird; aber eine solche Aufführung allein genügt nicht, ein Recht auf die Verleihung gewähren erst Beweise von besonderer Hingebung und wahrhaft christlicher Selbstverleugnung.«
»Die Religion«, begann die fromme Person wieder, »fordert von uns Demut, und ich würde gewiß nicht wagen, mein eigenes Lob zu singen, aber da ich doch seit mehr als zwanzig Jahren im Dienst bei einem alten Herrn, dem verdrehtesten Menschen von der Welt, einem Gelehrten, der alles bei seinen Erfindungen aufgebraucht hat, und den ich ernähren muß, diene, hat man mir gesagt, daß ich vielleicht nicht ganz unwürdig wäre, den Preis zu bekommen.«
»Das sind in der Tat die Bedingungen,« antwortete la Peyrade, »die die Akademie bei der Auswahl ihrer Kandidaten stellt. Wie heißt denn Ihr Herr?«
»Vater Picot; anders wird er in unserm Viertel nicht genannt, wo er manchmal ausgeht wie beim Karneval angezogen, daß die Kinder ihm nachlaufen und rufen: ›Guten Tag, Vater Picot, guten Tag, Vater Picot!‹ Aber das kümmert ihn nicht, was man von ihm denkt; er ist immer tief in Gedanken versunken, und wenn ich mir noch so sehr den Kopf zerbreche, wie ich ihm was Gutes koche – wenn Sie ihn fragen würden, was er gegessen hat, er wäre nicht imstande, Ihnen zu antworten; aber trotzdem ist er ein sehr gescheiter Mensch, der sehr tüchtige Schüler hat; der Herr kennt vielleicht den jungen Phellion, den Professor am Gymnasium Saint-Louis, der kommt noch sehr oft zu uns.«
»Also,« sagte la Peyrade, »dann ist Ihr Herr ein Mathematiker?«
»Jawohl, mein Herr, und die Mathematik, das ist sein Unglück; er befaßt sich da mit einem Haufen von Ideen, die, wie es scheint, gar keinen vernünftigen Sinn haben, und vorher hat er sich noch bei der Sternwarte, hier in der Nähe, wo er jahrelang angestellt war, die Augen verdorben.«
»Also,« sagte la Peyrade, »es würde sich darum handeln, einige Atteste über Ihre langjährige Aufopferung für den alten Herrn zu erhalten, dann würde ich eine Bittschrift an die Akademie verfassen und einige Schritte für Sie tun.«
»Ach, wie gütig ist der Herr!« sagte die Fromme mit gefaltenen Händen; »würde der Herr mir gestatten, ihn noch wegen einer kleinen Schwierigkeit zu befragen ...«
»Um was handelt es sich denn?«
»Man hat mir gesagt, daß man, wenn man den Preis erhalten will, ganz arm sein muß.«
»Nicht gerade das; aber immerhin ist die Akademie in der Tat darauf bedacht, ihre Auswahl unter bedürftigen Personen zu treffen, die Gelegenheit gehabt haben, über ihre Kräfte Opfer zu bringen.«
»Daß ich Opfer gebracht habe, das kann ich wohl von mir rühmen, denn eine kleine Erbschaft von Verwandten, die ich gemacht habe, ist fast ganz in der Wirtschaft draufgegangen, und seit vierzehn Jahren habe ich nicht einen Sou Lohn erhalten, was bei dreihundert Franken jährlich mit den aufgelaufenen Zinsen, wie mir der Herr zugeben wird, eine ganz hübsche Summe ausmacht.«
Bei diesen Worten »aufgelaufenen Zinsen«, die auf eine gewisse Erfahrung in Geldsachen schließen ließen, betrachtete la Peyrade diese Antigone aufmerksam.
»Und was ist das also für eine Schwierigkeit«, sagte er, »die Sie bedrückt? ...«
»Der Herr wird doch, denke ich, nichts Böses dabei finden,« erwiderte sie, »wenn ein sehr reicher Onkel von mir, der eben in England gestorben ist, und der bei Lebzeiten nie etwas für seine Familie getan hat, mir in seinem Testament fünfundzwanzigtausend Franken hinterlassen hat?«
»Das ist sicherlich«, sagte der Advokat, »durchaus natürlich und legal.«
»Aber ich habe mir sagen lassen, daß mir das doch bei den Herrn Richtern schaden könnte.«
»Das wäre möglich, weil die Opfer, die Sie doch gewiß auch weiterhin für Ihren Herrn werden bringen wollen, wenn Sie sich jetzt im Besitze eines kleinen Vermögens befinden, etwas weniger verdienstvoll erscheinen könnten.«
»Ich werde den guten armen Mann trotz seiner Schwächen sicherlich niemals im Stiche lassen, aber dabei würde das kleine Vermögen, das mir jetzt zugefallen ist, in die größte Gefahr geraten.«
»Wie das?« fragte la Peyrade neugierig.
»Nun, wenn er bei mir nur ein bißchen Geld vermutet, dann ist das für ihn nur ein Happen, und alles geht auf
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