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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Schnappschloß; ich richtete es so ein, daß ich wieder reinkommen konnte, und stieg die Treppe hinauf. Unterwegs hielt ich an und schrieb >Doc Vince - 13572< auf einen Umschlag. Vielleicht war es eine Spur.
    Das Haus war ganz still, als ich weiterstieg.

4
    Der Hauptschlüssel des Verwalters - es war viel dran gefeilt worden - öffnete das Schloß von Zimmer 214 lautlos. Ich stieß die Tür auf. Das Zimmer war nicht leer. Ein vierschrötiger, kräftiger Mann stand gebückt über einen Koffer auf dem Bett, den Rücken zur Tür. Hemden, Socken und Unterwäsche waren auf dem Bettbezug ausgebreitet, und er packte sie ruhig und sorgfältig, wobei er eintönig durch die Zähne pfiff. Er erstarrte, als die Türangel knarrte. Seine Hand fuhr schnell nach dem Kissen auf dem Bett.
    »Bitte, verzeihen Sie«, sagte ich, »der Verwalter sagte mir, das Zimmer sei leer.«
    Er war kahl wie eine Pampelmuse. Er trug dunkelgraue Flanellhosen und einen durchsichtigen Plastikhosenträger auf einem blauen Hemd. Seine Hände kehrten von dem Kissen zurück, zu seinem Kopf und wieder herunter. Dann drehte er sich um und hatte Haare.
    Es sah so natürlich aus wie Haar eben aussieht, weich, braun und ohne Scheitel.
    Darunter funkelte er mich an.
    » Anklopfen schadet nie«, sagte er.
    Er hatte eine schwere Stimme und ein breites, klares Gesicht, das viel gesehen hatte.
    »Warum sollte ich? Wenn der Verwalter sagt, daß es leer sei?«
    Er nickte beruhigt. Das Funkeln verschwand aus seinen Augen. Ich kam weiter ins Zimmer, auch ohne Einladung. Ein Groschenmagazin lag aufgeschlagen, Rücken nach oben, auf dem Bett neben dem Koffer. Eine Zigarre qualmte in einem grünen Glasaschenbecher. Das Zimmer war gut in Ordnung und sauber - für dieses Haus.
    »Er hat wohl gedacht, Sie seien schon ausgezogen«, sagte ich mit einer Miene voll guter Absichten, nichts als die Wahrheit im Sinn.
    »In einer halben Stunde haben Sie es«, sagte der Mann.
    »Was dagegen, daß ich mich mal umsehe?«
    Er lächelte freudlos. »Sie sind wohl noch nicht lange in der Stadt, was?«
    »Warum?«
    »Mögen Sie das Haus und die Nachbarschaft?«
    »Nicht besonders«, sagte ich. »Aber das Zimmer ist wohl in Ordnung.«
    Er grinste, und man konnte eine Jacketkrone aus Porzellan sehen - zu weiß für die anderen Zähne. »Wie lange suchen Sie schon?«
    »Fange grade an«, sagte ich. »Wozu die vielen Fragen?«
    »Ich muß lachen über Sie«, sagte der Mann ohne zu lachen. »Sie sehen sich keine Zimmer an. Sie greifen zu ohne hinzusehen, und diese Gegend ist derart überfüllt, daß ich zehn Dollar kriegen könnte, wenn ich nur sage, daß hier was leer ist!«
    »Schade«, sagte ich. »Ein Mann namens Orrin P. Quest hat mir das mit dem Zimmer gesagt. Also diesen Zehner können Sie nicht verprassen.«
    »Tatsächlich?« Kein Augenzwinkern. Kein Muskel, der sich rührte. Ebensogut hätte ich mit einer Schildkröte reden können. »Werden Sie nicht frech zu mir«, sagte der Mann.
    »Es ist nicht gesund, zu mir frech zu werden.«
    Er nahm seine Zigarre aus dem grünen Glasaschenbecher und paffte ein bißchen.
    Durch den Rauch warf er mir einen kalten grauen Blick zu. Ich zog eine Zigarette raus und kratzte mich mit ihr am Kinn.
    »Was passiert denn den Leuten, die frech zu Ihnen werden?« fragte ich ihn. »Müssen die Ihre Perücke halten?«
    »Lassen Sie meine Perücke aus dem Spiel«, sagte er wütend.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Am Haus ist ein Schild >Keine Zimmer frei<«, sagte der Mann. »Wieso kommen Sie her und wollen eins?«
    »Sie haben den Namen nicht mitgekriegt«, sagte ich. »Orrin P. Quest.« Ich buchstabierte ihn ihm vor. Das gefiel ihm auch nicht besser. Es herrschte tödliches Schweigen.
    Er drehte sich unvermittelt um und legte einen Haufen Taschentücher in seinen Koffer.
    Ich kam ein bißchen näher ran. Als er sich zurückdrehte, war so etwas wie ein wachsamer Zug in seinem Gesicht. Aber es war schon vorher ein wachsames Gesicht gewesen.
    »Freund von Ihnen?« fragte er lässig.
    »Wir sind zusammen groß geworden«, sagte ich.
    »Ein ruhiger Typ«, sagte der Mann ungezwungen. »Wir haben uns manchmal zusammen die Zeit vertrieben. Arbeitet bei Cal-Western, stimmt's?«
    »Früher mal«, sagte ich.
    »Oh. Er ist gegangen?«
    »Entlassen.«
    Wir starrten einander weiterhin an. Das brachte uns auch nicht weiter. Das hatten wir beide schon zu lange in unserem Leben gemacht, um davon Wunder zu erwarten.
    Der Mann steckte sich seine Zigarre wieder ins Gesicht und

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