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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Armeedecke war über seine Schultern und den unteren Teil seines Kopfes gezogen. Er schien es bequem zu haben, er war friedlich. Ich beugte mich über ihn und sah nach unten. Eine nicht ganz zufällige Falte hob die Decke von seinem Hinterkopf ab. Ich schob sie weg. Ein viereckiger, gelber Holzgriff war hinten an Lester B.
    Clausens Hals angebracht. Auf einer Seite des gelben Griffs war der Aufdruck
    »Überreicht durch Crumsen & Co, Eisenwaren«. Die Stelle, wo der Griff saß, war genau unter dem Hinterhauptknochen.
    Es war der Griff von einem Eisdorn, zum Zerkleinern von Stangeneis.
    Ich legte einen netten kleinen Spurt ein, um mich aus der Gegend zu entfernen. Am Stadtrand, kurz vor der Gemeindegrenze, klemmte mich in eine Telefonzelle und rief die Polizei an.
    »Polizei Bay City. Moot«, sagte eine rauhe Stimme.
    Ich sagte: »Idaho Street Nr. 449. In der Wohnung des Verwalters. Er heißt Clausen.«
    »Was?« sagte die Stimme. »Was ist los?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ist mir ziemlich rätselhaft. Aber der Mann heißt Lester B.
    Clausen. Haben Sie das?«
    »Wieso ist das wichtig?« sagte die rauhe Stimme arglos.
    »Das Morddezernat wird sich dafür interessieren«, sagte ich und hängte ein.

6
    Ich fuhr nach Hollywood zurück und schloß mich mit dem Telefonbuch von Bay City in mein Büro ein. Ich brauchte eine Viertelstunde, um herauszufinden, daß der Teilnehmer mit der Nummer eins-drei-fünf-sieben-zwei in Bay City ein Dr. Vincent Lagardie war, angeblich ein Neurologe, mit Wohnsitz und Praxis in der Wyoming Street; nach meinem Stadtplan war das nicht gerade mitten in der besten Wohngegend, aber auch noch nicht außerhalb. Ich schloß das Telefonbuch von Bay City in meinen Schreibtisch, ging runter in den Drugstore an der Ecke, nahm ein Sandwich und eine Tasse Kaffee und benutzte die Telefonzelle, um Dr. Vincent Lagardie anzurufen. Eine Frau meldete sich, und es war etwas mühsam, zu Dr. Lagardie selbst durchzukommen. Als ich es geschafft hatte, war seine Stimme ungeduldig. Er war, wie er sagte, sehr beschäftigt, mitten in einer Untersuchung. ich habe noch nie von einem Doktor gehört, bei dem es anders war. Ob er Lester B. Clausen kannte? Er hatte nie von ihm gehört. Was war der Zweck meiner Frage?
    »Mr. Clausen versuchte Sie heute morgen anzurufen«, sagte ich. »Er war zu betrunken, um normal reden zu können.«
    »Aber ich kenne Mr. Clausen nicht«, erwiderte die kühle Stimme des Doktors. Es hatte nicht mehr den Anschein, daß er in Eile war.
    »Na ja, dann ist es auch gut«, sagte ich. »Ich wollte bloß sichergehen. Irgend jemand hat ihm einen Eisdorn in den Hals gesteckt.«
    Eine stille Pause. Dr. Lagardies Stimme war jetzt von geradezu öliger Höflichkeit. »Ist es der Polizei gemeldet worden?«
    »Freilich«, sagte ich. »Aber das braucht Ihnen nichts auszumachen - außer, natürlich, wenn es Ihr Eisdorn war.«
    Er überging das. »Mit wem spreche ich?« fragte er verbindlich.
    »Sie sprechen mit Hicks«, sagte ich. »George W. Hicks. Ich bin gerade dort ausgezogen. Mit solchen Sachen will ich nichts zu tun haben. Ich habe mir nur gedacht, wo Clausen Sie doch anrufen wollte - also, bevor er tot war, meine ich -, da könnte es Sie doch interessieren.«
    »Tut mir leid, Mr. Hicks«, sagte Dr. Lagardies Stimme. »Aber ich kenne Mr. Clausen nicht. Ich habe nie von Mr. Clausen gehört, hatte nie irgend etwas mit ihm zu tun. Und für Namen habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
    »Na, das ist ja schön«, sagte ich. »Sie werden ihn jetzt auch nicht mehr kennenlernen.
    Aber es könnte ja sein, daß irgend jemand wissen will, warum er versucht hat, Sie anzurufen - es sei denn, ich vergesse, es weiterzuerzählen.«
    Einen Moment lang war Totenstille. Dr. Lagardie sagte: »Ich wüßte nicht, was dazu zu sagen wäre.«
    Ich sagte: »Ich auch nicht. Vielleicht rufe ich Sie noch mal an. Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Lagardie. Es ist keine große Geschichte. Ich bin nur ein bißchen durcheinander und brauche einen Freund. Irgendwie dachte ich, ein Doktor - so was wie ein Pfarrer. . . «
    »Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung«, sagte Dr. Lagardie. »Kommen Sie ohne Bedenken, wenn Sie einen Rat brauchen.«
    »Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte ich inbrünstig. »Vielen, vielen Dank.«
    Ich legte auf. Wenn Dr. Lagardie schlau war, würde er nun die Polizei in Bay City anrufen und denen die ganze Geschichte erzählen. Wenn er nicht anrief, war er nicht schlau. Es wäre vielleicht nützlich,

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