Die kleine Schwester
Kalifornien gekommen. Er fing gleich an zu arbeiten, den Job hatte er praktisch schon in der Tasche, als er wegfuhr.«
»Wie oft schrieb er nach Hause? Bevor er mit dem Schreiben aufhörte.«
»Jede Woche. Manchmal öfter. Er schrieb immer abwechselnd an Mutter und an mich.
Natürlich waren die Briefe für uns beide.«
»Worüber?«
»Sie meinen, worüber er schrieb?«
»Was haben Sie denn gedacht?«
»Sie brauchen mich nicht anzuschnauzen. Er schrieb über seine Arbeit und die Fabrik und die Leute dort, und manchmal über einen Film, in dem er gewesen war. Oder über Kalifornien. Er schrieb auch über die Kirche.«
»Nichts über Mädchen?«
»Ich glaube nicht, daß Orrin sich viel aus Mädchen machte. «
»Und er wohnte die ganze Zeit am selben Ort?«
Sie nickte, sie wirkte verwirrt.
»Und er hörte wann zu schreiben auf?«
Darüber hieß es nachdenken. Sie kniff die Lippen zusammen und drückte eine Fingerspitze an die Unterlippe. Schließlich sagte sie: »Ungefähr vor drei oder vier Wochen.«
»Von welchem Datum ist denn der letzte Brief?«
»Ich - es tut mir leid, ich kann Ihnen das genaue Datum nicht sagen. Aber es war, wie ich gesagt habe, drei oder vier. . «
Ich unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Irgend etwas Ungewöhnliches drin?
Stand irgendwas Abnormes drin, oder was Normales nicht drin?«
»Gar nicht. Er schien genau wie die anderen.«
»Haben Sie keine Freunde oder Verwandte in dieser Landesgegend?«
Sie blickte mich sehr sonderbar an, wollte etwas sagen, schüttelte dann heftig den Kopf.
»Nein.«
»Also gut. Ich werde Ihnen erzählen, was hier nicht stimmt. Ich rede gar nicht davon, daß Sie mir nicht sagen, wo Sie wohnen, vielleicht weil Sie befürchten könnten, daß ich mit einer Pulle Schnaps anrücke und Ihnen einen unzüchtigen Antrag mache.«
»Das ist nicht besonders nett, was Sie da reden«, sagte sie.
»Was ich sage, ist nie nett. Ich bin nicht nett. Nach Ihren Begriffen kann niemand nett sein, der nicht wenigstens drei Gebetsbücher hat. Aber etwas bin ich: ein hartnäckiger Frager. Was an der ganzen Sache nicht stimmt, ist, daß Sie keine Angst haben. Weder haben Sie selbst Angst, noch Ihre Mutter. Und Sie sollten höllische Angst haben!«
Sie drückte mit ihren klammen kleinen Fingern ihre Tasche an ihren Busen. »Meinen Sie, es ist ihm was passiert?« Ihre Stimme erstarb zu einer Art kummervollem Flüstern, wie bei einem Leichenbestatter, der um eine Anzahlung bittet.
»Ich hab keine Ahnung, was passiert ist. Aber in Ihrer Lage, wo Sie doch wissen, was Orrin für ein Typ ist, wie seine Briefe immer kamen und dann nicht mehr, da kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß man erst auf die Sommerferien wartet, bis man anfängt, Fragen zu stellen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß man die Polizei umgeht, die einen Apparat zum Aufspüren von Menschen hat. Um dann zu einem Ein-Mann-Unternehmen zu gehen, von dem Sie nie gehört haben, und ihn zu bitten, in den Hinterhöfen herumzustöbern. Und ich kann mir auch Ihre liebe alte Mutter nicht vorstellen, wie sie dasitzt, in Manhattan, Kansas, und Woche um Woche des Pfarrers Winter-Unterwäsche stopft. Und kein Brief von Orrin. Keine Nachricht. Und alles, was sie macht, ist tief aufseufzen und noch ein Paar Hosen flicken.«
Sie sprang empört auf. »Sie sind ein fürchterlicher, abstoßender Mensch«, sagte sie giftig. »Ich glaube, Sie sind hundsgemein. Wie können Sie es wagen, zu sagen, daß Mutter und ich uns keine Sorgen gemacht haben! Wie können Sie es wagen!«
Ich schob die Banknoten im Wert von zwanzig Dollar ein bißchen weiter auf die andere Seite des Schreibtisches. »Sorgen im Wert von genau zwanzig Dollar, meine Liebe«, sagte ich. »Aber weswegen Sorgen - das weiß ich nicht. Und eigentlich will ich's auch gar nicht wissen. jetzt stecken Sie einfach diesen dicken Packen wieder in Ihre Satteltasche und vergessen Sie, daß Sie mich je gesehen haben. Vielleicht kommen Sie morgen auf die Idee, es dem nächsten Detektiv zu leihen.«
Sie ließ das Schloß ihrer Tasche mit dem Geld heftig zuschnappen. »Ich glaube kaum, daß ich Ihr schlechtes Benehmen vergesse«, zischte sie. »Noch nie hat irgend jemand auf der Welt in dieser Art mit mir geredet.«
Ich stand auf und schlenderte um den Schreibtisch herum. »Sie sollten nicht zu viel darüber nachdenken. Am Ende gefällt es Ihnen noch.«
Ich streckte meine Hand aus und zog ihr rasch die Brille ab. Sie trat einen halben Schritt zurück, stolperte
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