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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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beinahe, und ich legte ganz instinktiv den Arm um sie. Ihre Augen wurden groß, sie legte ihre Hände auf meine Brust und stieß sich ab. Ein Küken konnte nicht kräftiger sein.
    »Ohne die Brille sind die Augen wirklich toll«, sagte ich voller Bewunderung.
    Sie entspannte sich, ließ ihren Kopf etwas nach hinten sinken und öffnete ein bißchen die Lippen. »So machen Sie's wohl mit allen Kunden«, sagte sie leise. Ihre Hände hingen wieder zu beiden Seiten. Die Tasche schubberte an meinem Bein. Ihr Gewicht lag auf meinem Arm. Wenn sie wollte, daß ich sie losließ, dann hatte sie eine komische Art, das mitzuteilen.
    »Ich wollte bloß nicht, daß Sie das Gleichgewicht verlieren«, sagte ich.
    »Ich wußte, daß Sie ein aufmerksamer Mensch sind.« Sie lockerte sich noch mehr. Ihr Kopf sank hintenüber. Ihre Augenlider senkten sich, flatterten ein bißchen, und ihre Lippen gingen weiter auseinander. Ein herausforderndes Lächeln erschien darauf, das man nicht erst lernen muß. »Sie haben sicher gedacht, ich hab das absichtlich gemacht«, sagte sie.
    »Was absichtlich gemacht?«
    »Na ja, stolpern oder so.«» Tja ...
    Sie hob schnell einen Arm und legte ihn um meinen Hals und zog. Da küßte ich sie eben. Entweder das oder ihr eine schmieren. Sie drückte ihren Mund einen Moment lang heftig auf meinen, dann schmiegte sie sich still und kuschelig in meine Arme. Dann kam ein langer, weicher Seufzer.
    »In Manhattan, Kansas, könnte man Sie wegen so was einsperren.«
    »Wenn es irgendeine Gerechtigkeit gäbe, könnte man mich einsperren, nur weil ich da bin.«
    Sie kicherte und klopfte mit einer Fingerspitze auf meine Nasenspitze. »Sicher sind Sie mehr für rasante Mädchen«, sagte sie und sah mich von der Seite an. »Na, wenigstens brauchen Sie keinen Lippenstift abzuwischen. Vielleicht tue ich das nächste Mal etwas auf.«
    »Vielleicht setzen wir uns lieber auf den Boden«, sagte ich. »Mein Arm wird lahm.«
    Sie kicherte wieder und machte sich zierlich los. »Sie werden sicher denken, daß ich schon oft geküßt worden bin«, sagte sie.
    »Alle Mädchen werden geküßt.«
    Sie nickte, sah mich so an, von unten herauf, daß ihre Iris von Wimpern halb verdeckt war. »Sogar auf Wohltätigkeitsparties spielen sie Pfänder mit Küssen«, sagte sie.
    »Sonst gäb's ja auch keine Wohltätigkeitsparties«, sagte ich.
    Wir sahen uns an, ausdruckslos.
    Schließlich begann sie: »Alsooo ... « Ich reichte ihr ihre Brille zurück. Sie setzte sie auf.
    Sie machte die Tasche auf, betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, wühlte in der Tasche herum und zog die Hand heraus - geschlossen.
    » Tut mir leid, daß ich so böse war«, sagte Sie und schob etwas unter den Löscher auf meinem Schreibtisch. Sie schenkte mir noch ein dünnes Lächeln, begab sich zur Tür und machte sie auf.
    »Bin bald wieder da«, sagte sie vertraulich. Und draußen war sie, klapp-klapp-klapp den Gang entlang.
    Ich ging rüber, nahm den Löscher hoch und glättete die zerknitterten Zahlungsmittel, die drunter lagen. Es war kein großartiger Kuß, aber anscheinend hatte ich noch mal die Gelegenheit, die zwanzig Dollar zu kriegen.
    Das Telefon klingelte, noch bevor ich wieder bei meinen Sorgen um Mr. Lester B.
    Clausen war. Zerstreut nahm ich auf. Die Stimme, die ich vernahm, war eine kurz angebundene Stimme, aber fett und verstopft, als ob sie einen Vorhang oder einen langen weißen Bart durchdringen müßte.
    »Marlowe dort?« sagte sie.
    »Am Apparat.«
    »Haben Sie ein Sicherheitsfach, Marlowe?«
    Langsam hing mir die Höflichkeit zum Hals heraus. »Schluß mit den Fragen. Reden Sie mal.«
    »Ich hab Sie was gefragt, Marlowe.«
    »Und ich habe nicht geantwortet«, sagte ich. »Ganz einfach.«
    Ich langte nach vorn und drückte die Telefongabel runter. Ich hielt sie unten, während ich nach einer Zigarette wühlte. Ich wußte, daß er gleich wieder anrufen würde. Das machen sie so, wenn sie sich für harte Burschen halten. Sie haben ihr Schlußwort noch nicht gesprochen. Als es wieder klingelte, redete ich gleich weiter.
    »Wenn Sie einen Vorschlag haben, machen Sie ihn. Außerdem sagt man >Mister< zu mir, solange ich noch kein Geld gekriegt habe.«
    »Zügeln Sie mal Ihr Temperament ein bißchen, guter Freund. Ich sitze in der Tinte. Ich brauche Hilfe. Etwas Bestimmtes muß sicher verwahrt werden. Ein paar Tage. Nicht länger. Und Sie können dabei ganz schnell ein bißchen was verdienen.«
    »Was heißt >ein bißchen