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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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so was sind Sie bestimmt sehr tapfer.«
    »Klar«, sagte ich. »Immer ein frohes Lächeln im Gesicht. Haben Sie gesehen, was er in der Hand hielt?«
    »Er hatte nichts in der Hand.«
    »Na ja, dann lag es neben der Hand.«
    »Da war nichts. Gar nichts war da. Was soll denn das gewesen sein?«
    »Das ist schön«, sagte ich. »Das freut mich wirklich. Also, adieu. Ich fahre jetzt zum Präsidium. Ich soll dorthin kommen. Viel Glück, falls ich Sie nicht mehr sehe.«
    »Behalten Sie lieber Ihr Glück«, sagte sie. »Vielleicht brauchen Sie es. Und ich will es nicht haben.«
    »Ich habe für Sie getan, was ich konnte«, sagte ich. »Vielleicht, wenn Sie mir am Anfang etwas mehr erzählt ... «
    Sie legte auf, während ich sprach.
    Ich legte den Hörer sanft in die Gabel, als ob er ein Baby wäre. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir die Innenseite meiner Hände ab. Ich ging zum Waschbecken und wusch mir Hände und Gesicht. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, trocknete es fest mit dem Handtuch ab und betrachtete es im Spiegel.
    »Du bist wirklich von einem Felsen gestürzt«, sagte ich zu dem Gesicht.

24
    Mitten im Zimmer stand ein langer gelber Eichentisch. Seine Ränder waren von brennenden Zigaretten stellenweise angesengt. Dahinter war ein Fenster mit Maschendraht über dem Rauhglas. Ebenfalls hinter dem Tisch, über einem Durcheinander von unordentlich ausgebreiteten Papieren, Polizeileutnant Fred Beifus.
    Am Ende des Tisches, auf zwei Füßen eines Armsessels zurückgekippt, saß ein großer, stämmiger Mann mit einem Gesicht, das mich irgendwie an ein Gesicht erinnerte, das ich schon mal gerastert in einer Zeitung gesehen hatte. Er hatte ein Kinn wie 'ne Parkbank. Er hatte das Schaftende eines Zimmermannsbleistifts zwischen den Zähnen. Er schien wach zu sein und zu atmen, aber ansonsten saß er nur da.
    Auf der anderen Seite des Tisches waren zwei Schreibtische mit Rouleauverschluß und ein weiteres Fenster. Einer der Schreibtische stand mit dem Rücken zum Fenster. Eine Frau mit orangefarbenem Haar tippte einen Bericht auf einem Schreibmaschinentischchen neben dem Schreibtisch. An dem anderen Schreibtisch, der quer zum Fenster stand, saß Christy French in einem zurückgekippten Drehstuhl, mit den Füßen auf einer Schreibtischecke. Er blickte aus dem Fenster, das offenstand und eine großartige Aussicht auf den Polizeiparkplatz und die Rückseite einer Reklamewand bot.
    »Setzen Sie sich hierhin«, sagte Beifus mit einer Geste.
    Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen steifen Eichenstuhl ohne Lehnen. Er war längst nicht mehr neu, und auch neu war er nicht schön gewesen.
    »Das ist Leutnant Moses Maglashan von der Polizei von Bay City«, sagte Beifus. »Er liebt Sie auch nicht mehr als wir.«
    Leutnant Moses Maglashan nahm den Zimmermannsbleistift aus seinem Mund und betrachtete die Abdrücke seiner Zähne auf dem dicken, eckigen Bleistiftgriff. Dann betrachtete er mich. Seine Augen wanderten an mir entlang und erforschten mich, registrierten mich. Er sagte nichts. Er nahm den Bleistift wieder in den Mund.
    Beifus sagte: »Vielleicht bin ich schwul, aber für mich haben Sie nicht mehr Sex-Appeal als eine Schildkröte.« Er machte eine halbe Wendung zu der Schreibdame in der Ecke.
    »Millie.«
    Sie drehte sich fort von der Maschine zu einem Stenoblock, ohne aufzusehen. »Name Philip Marlowe«, sagte Beifus. »Falls Sie pingelig sind - er hat ein >e am Ende.
    Lizenznummer?«
    Er sah mich an. Ich sagte es ihm. Die rote Fee schrieb ohne aufzublicken. Es wäre eine Beleidigung gewesen, wenn man von ihrem Gesicht gesagt hätte, daß es eine Uhr anhalten könnte. Ein flüchtiges Pferd hätte davor angehalten.
    »Wenn Sie jetzt in Stimmung sind«, sagte Beifus zu mir, »können Sie jetzt von vorne anfangen und alles erzählen, was Sie gestern ausgelassen haben. Versuchen Sie nicht zu sieben. Lassen Sie's einfach laufen. Wir wissen genug, um alles nachzuprüfen.«
    »Ich soll eine Erklärung abgeben?«
    »Eine sehr vollständige Erklärung«, sagte Beifus. »Ist das nicht schön?«
    »Und es soll freiwillig und ohne Zwang sein?«
    »Na klar. So ist es doch immer.« Beifus grinste.
    Maglashan sah mich einen Augenblick ruhig an. Die rote Fee drehte sich wieder zu ihrer Maschine. Es war noch nichts für sie. Durch dreißig Jahre Arbeit war sie äußerst rationell geworden.
    Maglashan nahm einen abgetragenen schweinsledernen Handschuh aus seiner Tasche, zog ihn über seine rechte Hand und machte

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