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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Sekundenzeigers auf meiner Uhr. Es war noch lange hin bis fünf Uhr. Der Sekundenzeiger machte die Runde auf dem Zifferblatt wie ein Hausierer. Die Zeiger zeigten vier Uhr zehn. Man könnte meinen, daß sie bis dahin angerufen hätte. Ich zog mir die Jacke aus, schnallte den Hüftgurt ab und schloß ihn zusammen mit der Luger in der Schreibtischschublade ein.
    Die Polypen haben es nicht so gern, wenn man auf ihrem Gelände ein Schießeisen trägt.
    Auch wenn man eine Genehmigung dafür hat. Sie haben es gern, wenn man recht bescheiden ankommt, den Hut in der Hand, die Stimme leise und höflich, mit ganz und gar leeren Augen.
    Wieder sah ich auf die Uhr. Ich horchte. An diesem Nachmittag wirkte das Haus leise.
    Bald würde es ganz still sein und dann würde die Madonna mit dem dunkelgrauen Mop durch den Gang geschlurft kommen und würde an den Türknöpfen rütteln.
    Ich zog meine Jacke wieder an, schloß die Verbindungstür ab, schaltete den Summer ab und trat hinaus in den Korridor. Da klingelte das Telefon. Ich hängte fast die Tür aus, als ich ins Büro zurückstürzte. Es war ihre Stimme, aber sie hatte einen Klang, den ich noch nie gehört hatte. Ein kühler, ausgeglichener Klang, gar nicht flach oder leer oder tot, auch keineswegs kindlich. Es war die Stimme einer Frau, die ich nicht kannte und doch irgendwie kannte. Ich wußte, was mit der Stimme los war, bevor sie mehr als drei Worte gesagt hatte.
    »Ich habe Sie angerufen, weil Sie's mir gesagt haben«, sagte sie. »Aber Sie brauchen mir nichts zu erzählen. Ich bin dort gewesen.«
    Ich hielt den Hörer mit beiden Händen.
    »Sie waren dort«, sagte ich. »Ja. Ich hab's gehört. Und nun?«
    »Ich habe mir ein Auto ... geliehen«, sagte sie. »Ich habe auf der anderen Straßenseite geparkt. Es waren so viele Autos dort, daß Sie mich nicht bemerkt hätten. Da ist ein Beerdigungsinstitut. Ich bin Ihnen nicht gefolgt. Als Sie da rauskamen, versuchte ich hinter Ihnen herzugehen, aber ich kenne mich da nicht aus und habe Sie aus den Augen verloren. Deshalb bin ich wieder zurückgegangen. «
    »Weswegen sind Sie denn zurückgegangen?«
    »Ich weiß es eigentlich nicht. Ich dachte, daß Sie irgendwie komisch aussahen, als Sie aus dem Haus rauskamen. Oder vielleicht hatte ich einfach so ein Gefühl. Weil es doch mein Bruder ist und so. Also bin ich wieder hingegangen und habe geläutet. Niemand machte auf. Ich fand das auch merkwürdig. Vielleicht bin ich neurotisch oder so was.
    Ganz plötzlich war mir so, als ob ich unbedingt in das Haus hinein müßte. Ich wußte nicht wie, aber ich mußte rein.«
    »Mir geht's auch manchmal so«, sagte ich, und es war auch meine Stimme, aber jemand mußte meine Zunge zum Schmirgeln benutzt haben.
    »Ich rief die Polizei an und erzählte, daß ich Schüsse gehört hätte«, sagte sie. »Da kamen sie an, und einer von ihnen stieg durch das Fenster in das Haus. Dann öffnete er dem andern die Tür. Und mich wollten sie nicht reinlassen. Ich mußte ihnen alles erzählen, wer er war, daß ich das mit den Schüssen gelogen hatte, aber daß ich Angst hatte, daß Orrin etwas passiert sei. Und ich mußte ihnen auch von Ihnen erzählen.«
    »Das ist schon recht«, sagte ich. »Ich hätte es ihnen selbst gesagt, nachdem ich Sie gesprochen hatte.«
    »Es ist unangenehm für Sie, nicht?«
    »Ja.«
    »Werden die Sie einsperren oder was?«
    »Vielleicht.«
    »Sie haben ihn da auf dem Boden liegen lassen. Tot. Wahrscheinlich ging es nicht anders.«
    »Ich hatte meine Gründe«, sagte ich. »Vielleicht werden sie nicht gut klingen, aber ich hatte welche. Für ihn war es sowieso egal.«
    »Oh, Sie werden schon Ihre Gründe gehabt haben«, sagte sie. »Sie sind sehr schlau.
    Sie haben ja immer Gründe für alles. Na schön, jetzt werden Sie der Polizei wohl auch Ihre Gründe erzählen müssen.«
    »Nicht unbedingt.«
    »0 doch, das werden Sie«, sagte die Stimme, und sie hatte einen freudigen Beiklang, den ich mir nicht erklären konnte. »Bestimmt werden Sie das. Die zwingen Sie dazu.«
    »Wir wollen uns nicht drüber streiten«, sagte ich. »In meinem Beruf muß man tun, was man kann, um den Klienten zu schützen. Manchmal geht man ein bißchen weit. Ich bin ein bißchen weit gegangen. jetzt können sie mich drankriegen. Aber ich habe es nicht nur für Sie getan.«
    »Sie haben ihn auf dem Boden liegen lassen, tot«, sagte sie. »Und mir ist es egal, was sie mit Ihnen machen. Ich glaube, wenn Sie ins Gefängnis kommen, wäre es mir recht.
    Bei

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