Die kleine Schwester
er verhaftet war. Falls er ein Hauptzeuge war ... «
»Glauben Sie nicht, daß er sich hätte freikaufen können, wenn er wirklich gewollt hätte?«
»Ich habe nicht viel drüber nachgedacht«, log ich. »Ich kenne den Herrn ja nicht.«
»Haben Sie denn nie mit ihm gesprochen?« fragte sie nachlässig, ein bißchen zu nachlässig.
Ich gab keine Antwort.
Sie lachte kurz auf. »Gestern abend, Amigo. Vor Mavis Welds Apartment. Ich saß in einem Wagen auf der anderen Straßenseite. «
»Es hätte ja Zufall sein können, daß ich ihn traf. War das der Kerl?«
»Sie können mir nichts vormachen.«
»Na schön. Miss Weld hat mich ziemlich schlecht behandelt. Ich war sauer, als ich fortging. Dann traf ich diesen Gigolo mit seinem Schlüssel in der Hand. Ich reiße ihm den aus der Hand und schmeiße ihn in die Büsche. Ich entschuldige mich und hole ihn wieder zurück. Irgendwie war er ein ganz netter Kerl.«
»Sehrr nett«, gurrte sie. »Er war auch mal mein Freund.«
Ich grunzte.
»Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor, aber Ihr Liebesleben interessiert mich nicht so wahnsinnig, Miss Gonzales. Ich nehme an, daß es sehr weitreichend ist - die ganze Latte von Stein bis Steelgrave.«
»Stein?« fragte sie sanft. »Wer ist Stein?«
»Ein schwerer Junge aus Cleveland, der sich letzten Februar vor Ihrem Apartmenthaus abknallen ließ. Er hatte dort eine Wohnung. Ich dachte, daß Sie ihn vielleicht kannten.«
Sie gab ein kleines Silberlachen von sich. »Es gibt schon noch Männer, die ich nicht kenne, Amigo. Sogar im Chateau Bercy.«
»Nach den Berichten ist er zwei Straßen weiter niedergeschossen worden«, sagte ich.
»Mir gefällt's besser, wenn es gleich bei Ihnen passiert ist. Und Sie haben aus dem Fenster geschaut und zugesehen, wie es passiert ist. Und haben gesehen, wie der Mörder fortgerannt ist, und unter einer Straßenlaterne drehte er sich noch mal um, und das Licht fiel auf sein Gesicht, und Sie hätten schwören können, daß es Steelgrave, der alte junge, war. Erkannt haben Sie ihn an seiner Gumminase und weil er seinen hohen Hut mit den Tauben drauf getragen hat.«
Sie lachte nicht.
»Wenn es Ihnen so besser gefällt«, sagte sie weich.
»Damit könnten wir mehr Geld rausholen.«
»Aber Steelgrave war im Gefängnis«, lächelte sie. »Und wenn er nun wirklich nicht gesessen hätte, und wenn ich auch, sagen wir mal, zufällig einen gewissen Dr.
Chalmers gut gekannt hätte, der damals gerade Gefängnisarzt war und der mir, in einem intimen Augenblick, erzählt hat, dag er Steelgrave einen Passierschein zum Zahnarzt verschafft hat - natürlich unter Bewachung, aber der Wachmann war ein vernünftiger Mensch -, und zwar genau an dem Tag, an dem Stein erschossen wurde -
auch wenn das alles stimmen
würde - sollten wir Steelgrave doch besser nicht damit erpressen!«
»Ich mag keine großen Worte«, sagte ich, »aber ich habe keine Angst vor Steelgrave oder vor einem Dutzend Steelgraves auf einem Haufen.«
»Ich schon, Amigo. In diesem Land ist ein Zeuge eines Bandenmords seines Lebens nicht sicher. Nein, nein, wir werden Steelgrave nicht erpressen. Und wir werden auch nicht über Mr. Stein auspacken, den ich vielleicht gekannt habe - oder auch nicht. Es genügt, daß Mavis Weld mit einem bekannten Gangster eng befreundet ist und mit ihm gesehen wird.«
»Wir müßten erst beweisen, daß er ein bekannter Gangster ist. «
»Können wir das nicht?«
»Wie denn?«
Sie machte ein enttäuschtes Mündchen. »Aber ich war ganz sicher, daß Sie das in den letzten Tagen herausgebracht hätten.«
»Wieso?«
»Meine privaten Indizien.«
»Für mich haben sie keinen Wert, wenn Sie sie für sich behalten.«
Sie streifte ihren braunen Zigarettenstummel an meinem Aschenbecher ab. Ich beugte mich vor und drückte den Stummel mit einem Bleistift aus. Sie berührte meine Hand ganz leicht mit einem behandschuhten Finger. Ihr Lächeln war das Gegenteil eines Schlafmittels. Sie lehnte sich zurück und legte die Beine übereinander. In ihren Augen tanzten Fünkchen. Für sie war es schon eine zu lange Zeit ohne Flirt.
»Liebe ist so ein schwaches Wort«, sagte sie nachdenklich. »Es wundert mich schon immer, daß diese Sprache, in der es so viele Liebesgedichte gibt, mit so einem matten Wort dafür auskommt. Da ist kein Leben drin, da schwingt nichts mit. Ich muß dabei an kleine Mädchen in zerknitterten Sommerkleidern denken, mit blaßrosa Lächeln, mit schüchternen Stimmchen, und sehr wahrscheinlich
Weitere Kostenlose Bücher