Die Klinge des Löwen 01
in Anspruch nehmen.“
Er hätte viel
darum gegeben, jetzt ihr Gesicht zu sehen, aber er vermochte es in
der herrschenden Finsternis nur undeutlich wahrzunehmen. Mit einem
seltsamen Gefühl des Bedauerns lockerte er die Zügel, und
Titus strebte wieder an die Spitze des Zuges .
Das gestrige
Zusammentreffen kam Dietrich kurz in den Sinn. Er dachte an die
spöttischen Bemerkungen der Gräfin, als sie sich mit ihm
unterhalten hatte, und an seine eigene Verlegenheit. Heute aber
überraschte ihn ihre Sanftheit und Nachgiebigkeit. War das nun
wieder eine ihrer Launen oder paßte sie sich nur der
ungewohnten Situation an? Es schien ihm, als ob sie ein sehr
kompliziertes Wesen sei. Auf den Gedanken, daß die scheinbare
Veränderung der Gräfin auf sein eigenes Verhalten
zurückgeführt werden könnte, kam er allerdings nicht.
Er dachte nicht daran, daß die höfischen Sitten und
Gebräuche - denen er sich als einfacher Rittersmann auf der Burg
mehr oder weniger ausgeliefert fühlte - hier draußen in
der Wildnis und angesichts der drohenden Gefahren in den Hintergrund
traten.
Er spürte aber
instinktiv, daß er jetzt in seinem Element war und die
peinliche Befangenheit ihn nicht mehr zu übermannen vermochte,
wenn die Gräfin mit ihm sprach. Und sachte formte sich in seinem
Bewußtsein der Gedanke, daß er in dieser neuen Lage
derjenige sei, von dessen Fähigkeiten allein das Schicksal der
ihm anvertrauten Menschen abhing.
Er tat einen tiefen
Atemzug. Zum erstenmal wurde er sich des Gewichts der ihm
übertragenen Aufgabe und seiner Verantwortung für deren
Gelingen bewußt.
Schweigend ritt die
kleine Schar durch die zu Ende gehende Nacht. Als der Morgen graute,
tauchten die Umrisse des Benediktinerklosters der Abtei Gengenbach
vor ihnen auf. Es lag auf einer aufgeschütteten Anhöhe,
während die wenigen Häuser des Dorfes sich unterhalb des
Klosters gleich Schutz suchenden Schafen zusammendrängten. Die
nahe Künzig führte in fast jedem Frühjahr Hochwasser.
Und da ihre Wassermassen aus der Talaue heraus in einem weiten Bogen
dicht an dem Weiler entlangbrausten, waren die Häuser der
Dörfler in solchen Zeiten ständig gefährdet.
Bislang war die
Reise ungestört verlaufen, und so hielt Dietrich sich an die
Anordnung seines Lehnsherrn, das Kloster entlang der bewaldeten Hänge
zu umgehen und ohne Halt weiterzureiten. Er wußte, daß
die Benediktinerabtei eine Brücke über die Künzig
unterhielt, die er zu meiden hatte. Er durfte auf keinen Fall mit
Reisigen zusammentreffen, die für den Geroldsecker unterwegs
waren und eventuell denselben Flußübergang benutzten.
Allerdings mußten
sie nun auch die bequeme Römerstraße verlassen, weil sie
über jene Brücke führte und dann auf der anderen Seite
der Künzig und unterhalb des sich dort erhebenden Höhenzuges
verlief. Diese Region gehörte bereits zum Einflußbereich
des Grafen Urban von Geroldseck. Dietrich hielt sich deshalb
wohlweislich mit seiner Reiterschar im Schutz des sich östlich
vom Fluß erstreckenden bewaldeten Geländes, auch wenn es
unwegsam und nur mühselig zu durchqueren war.
Da sie hinter dem
Kloster nahe eines Hanges entlangzogen, dessen Fuß die Künzig
bei Hochwasser erreichte, gerieten sie auf teilweise sumpfigen Boden.
Sie kamen hier nur langsam voran, weil sie immer wieder tiefem Morast
ausweichen mußten. Unmutig stellte Dietrich fest, daß sie
schon jetzt viel Zeit verloren.
Nach einer geraumen
Weile hatten sie diesen beschwerlichen Teil des Weges hinter sich
gebracht. Im ungewissen Licht der Morgendämmerung verhielt
Dietrich sein Roß, was den ganzen Trupp veranlasste, ebenfalls
anzuhalten. Es war immer noch kalt, und der Atem der schnobernden
Pferde erfüllte wie Dampf die Luft. Die Reiterschar befand sich
im Schutze eines Buchenhains, der sich den Hang herunterzog und ein
Stück weit in das ebene Gelände hinausreichte. Einen
Steinwurf entfernt wälzte sich der hochgehende Fluß dahin,
dessen Rauschen gedämpft das Ohr der Reisenden traf.
Mittlerweile war das Kind der Gräfin erwacht und begann leise zu
jammern.
„ Scht!“ machte seine
Mutter und versuchte, den Knaben zu beruhigen. Irgendwie fühlte
Dietrich sich bemüßigt, sein Pferd an ihre Seite zu lenken
und sie zu beruhigen. „Keine Angst, hier hört uns niemand.
Ich glaube nicht, daß Kundschafter des Geroldseckers oder
sonstige ungebetene Galgenvögel uns gerade hier vermuten. Falls
jemand von unserer Reise Wind bekommen hätte, würde er uns
auf der Straße suchen und
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